geschrieben am 16.10.2011
Diesen Ball hat Hans Jörg Butt dort auf die Litfaßsäule geschossen. Es muss 1981 oder 1982 gewesen sein, das weiß ich nicht mehr genau. Ich weiß nur noch, dass er sehr sauer gewesen ist, weil wir ihn wieder nicht haben mitspielen lassen. Es machte keinen Spaß, gegen Hans Jörg zu spielen. Er war zu verbissen und auch schon damals einfach zu gut, aber das sagten wir ihm natürlich nicht. Wir sagten: „Wir sind schon genug“ oder: „Deine Mutter war gerade hier, du sollst sofort nach Hause kommen“, an diesem Tag aber sagten wir gar nichts, wir spielten einfach weiter, beachteten ihn gar nicht, wie er dort schlaksig und winkend am Spielfeldrand stand, in seinem blauen HSV-Trikot, das er zu Weihnachten bekommen hatte und auf das er so stolz war. Irgendwann, nach fünfzehn Minuten vielleicht, drehte er sich einfach um und ging, und wir fühlten uns etwas schuldig, aber spielten weiter, es stand 6:6, das weiß ich noch. Ich weiß auch noch, dass ich gerade den Ball hatte, dass ich gerade zu Thorsten Groß passen wollte, der frei vor dem Tor stand, aber dazu kam ich nicht. Hans Jörg kam plötzlich schreiend aufs Spielfeld gerannt, so schnell, wie ich noch nie jemand hatte rennen sehen, er rannte geradewegs auf mich zu, Augen und Mund weit aufgerissen. Ich sah, wie er mit dem rechten Bein ausholte, wie er gegen den Ball trat, wie der Ball in die Höhe schoss, weit über den Zaun hinaus, weit über die Häuser hinaus, wie er als gefleckter Komet durch den Himmel streifte bis er außer Sichtweite war.
Erst blieben wir alle stumm, den Blick immer noch in den Himmel gerichtet, als könne der Ball auf einmal wieder dort auftauchen, dann schrie Thorsten Groß: „Scheiße Mann, den holst du wieder, Hans Jörg“, aber Hans Jörg lächelte nur, drehte sich um und ging. Keiner von uns sah ihn je wieder, oder erst später im Fernsehen.
Ein paar Stunden haben wir an diesem Nachmittag den Ball noch gesucht, aber natürlich nicht gefunden. Erst Jahre später, Anfang der 90er muss das gewesen sein, entdeckte einer von uns ihn zufällig, hier auf dieser Litfaßsäule in Bürgerfelde, fast fünf Kilometer von unserem Spielfeld damals entfernt. Wir holten ihn nicht von dort runter, keiner von uns spielte mehr Fußball. Es gab längst andere halbherzige Interessen, irgendwelche Beschäftigungen, in denen wir nicht sehr gut waren, und die oft wechselten. Nichts davon hätte uns je schreiend irgendwo gegen treten lassen, so sehr wir auch überlegten.
Wenn ich jetzt in Bürgerfelde bin, schaue ich immer nach, ob der Ball noch da ist. Und dann schaue ich schnell wieder weg.