Tilman Rammstedt

Tilman Rammstedt wurde 1975 in Bielefeld geboren und studierte Philosophie und Literaturwissenschaft in Edinburgh, Tübingen und Berlin. Er ist ständiges Mitglied der Lesebühne „Visch & Ferse“ so wie Texter und Musiker bei der Gruppe „Fön“. Sein Debütband mit „Erledigungen vor der Feier“ erschien 2003. Es folgten die Romane „Wir bleiben in der Nähe“ (2005) und „Der Kaiser von China“ (2008). Mit den Schriftstellern Michael Ebmeyer und Florian Werner und dem Songschreiber Bruno Franceschini veröffentlichte er 2004 unter dem Pseudonym K. L. McCoy den Fön. Tilman Rammstedt lebt als Schriftsteller und Musiker in Berlin.

Auszeichnungen:
2009 Literaturpreis der Wirtschaft
2008 Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis
2008 Haupt- und Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Preis
2008 Stipendiat des Deutschen Literaturfonds e.V.
2006 Förderpreis des Landes NRW für junge Künstlerinnen und Künstler
2005 Förderpreis für grotesken literarischen Humor der Stadt Kassel
2005 Autorenförderprogramm der Stiftung Niedersachsen
2003 Rheinischer Kulturförderpreis
2001 Preisträger des open mike der Literaturwerkstatt Berlin

Prolog

geschrieben am 29.06.2011

Wenn man  mit Google Earth Oldenburg anfliegt, wenn der blaue Planet auf einen zurast, wenn sich die Grenzen Europas abzeichnen, die Grenzen Deutschlands abzeichnen, wenn man dann unweigerlich auf diesen Punkt im Nordwesten zusteuert, die Landschaft grün wird, ländlich wird, wenn der Umriss der Stadt auftaucht, wenn man in sie hineinspringt, in das Gedränge von Häusern und Straßen, von Bäumen und Wasser, wenn die Piktogramme um einen herumtanzen, die Ansichtskarten und Kaffeetassen und Noten und Richterhämmer, wenn man mitten ins Zentrum all dessen gezogen wird, dann landet man auf einer Verkehrsinsel.

Hier, mitten auf dem Schlosswall, Ecke Damm, bestimmt Google Earth das Zentrum Oldenburgs. Und hier befinde ich mich nun in der Bodenansicht dieses Ortes, an dem alles kulminiert, von dem aus alles abzweigt, an dem alles seinen Anfang nimmt. Für mich ist diese Verkehrsinsel das erste, was von Oldenburg existiert. Und vielleicht stimmt das ja auch. Vielleicht ist die Verkehrsinsel das wahre historische Zentrum, vielleicht stand sie hier jahrzehntelang stolz und einsam in der Landschaft, bis man irgendwann den Schlosswall um sie herum baute, weil eine Verkehrsinsel ohne umliegende Straße auf Dauer ein Identitätsproblem bekam, und dann musste man schnell ein Schloss bauen, weil sonst der Name der Straße keinen Sinn ergäbe, und dann musste man jemanden finden, der in das Schloss einzieht (die Nebenkosten, die Nebenkosten), am besten einen Grafen, am besten einen Grafen mit dem Namen Anton Günther, weil der älteste Trakt des Schlosses doch schon nach ihm hieß, und dann musste man schnell Menschen finden, die dem Grafen mit seinen Nebenkosten helfen konnten, und man brauchte Häuser für die Menschen und Kirchen für die Postkarten und Brücken für die Postkarten, auf denen zur Abwechslung mal keine Kirchen sein sollten, und einen Fluss, der unter den Brücken durchfließen konnte, und junge Menschen, die malerisch in den Fluss schauen konnten, um sich dabei malerische Gedanken zu machen, und eine Universität, in der den jungen Menschen gesagt wurde, was für Gedanken sie sich machen konnten, und man brauchte eine Mannschaft für die schöne Sport- und Mehrzweckarena und Verbrecher für die schöne Justizvollzugsanstalt, und all das machte viel Arbeit.

Ein halbes Jahr lang werde ich mich nun als virtueller Stadtschreiber in den Ergebnissen dieser Arbeit herumtreiben, ich werde die Verkehrsinsel verlassen, vorsichtig den Schlosswall überqueren, ich schaue nach links, nach rechts.

Der Hochadel geht zur Post

geschrieben am 04.07.2011

Laut wetter.de ist es heute kühl und bedeckt hier in Oldenburg. Das ist nicht schlimm. Ich wollte von meiner Bastion auf der Verkehrsinsel aus ohnehin nur schnell über die Straße ins Schloss, also ins Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg. Das hat montags, wie es sich für ein Museum gehört, natürlich geschlossen, doch das stört mich als virtuellen Stadterkunder wenig. Im Internet kann ich die komplizierte Alarmanlage mühelos umgehen, dort kann ich mich zwischen den tanzenden Lichtsensoren hindurchschlängeln, mit vorbereitetem Bildmaterial die Überwachungskameras austricksen und mich dann in aller Ruhe in den leeren Sälen umschauen.

Die Dielen knarzen, es riecht nach Bohnerwachs und Acryl, der Schein meiner Taschenlampe fällt auf Schwebende Nymphen, auf schüchterne Porzellanfiguren, auf Amor und Psyche; er fällt auf den Knaben mit Vogel, auf das Mädchen mit Puppe auf das Selbstporträt mit roter Bluse, er tastet die ernsten Gesichter der Landesväter ab und bleibt dann schließlich hängen am Profil der Gräfin Sophia Katharina von Oldenburg, auf dieser beglückend würdevollen Hässlichkeit.

Das Porträt rührt mich ungeheuerlich: die baumelnde Quaste am Kopfschmuck, die Lockenborte auf der fliehenden Stirn, die Tränensäcke, das gleichsam stolze wie knubbelige Kinn – die Herzogin wirkt wie ein pubertätsgeplagter Teenager, der sich fürs Jahrbuchfoto besonders hübsch machen wollte und bei allem, wirklich allem die falsche Entscheidung traf.

Aber dann diese Hand, diese schmalen Finger, die fast verlegen mit der Brosche spielen. Die Hand passt so wenig zum Rest des Körpers, dass es so aussieht, als sei versehentlich die Hand eines Dienstmädchens mit aufs Bild gekommen, die ihrer Herrin noch in letzter Sekunde das Kleid richten wollte, und diese Vorstellung gefällt mir, ein Schnappschuss in Öl auf Holz.

Etwas weniger gerührt bin ich von der anderen Adeligen drüben im Prinzenpalais: Ameli Herzogin von Oldenburg, deren Aquarelle und Zeichnungen gerade in einer Sonderausstellung gezeigt werden. Wenn ich den Pressetext richtig verstehe, besteht ihre künstlerische Leistung darin, ungefähr zur selben Zeit geboren zu sein als die ersten Werke der Moderne Einzug ins Landesmuseum fanden. Ihren Bildern nach zu urteilen mag sie Blumen. Sonst erfährt man wenig über sie. Auch im Internet findet sich außer dieser Ausstellung fast nichts. Nur bei ebay. Dort wurde im März dieses Jahres ein handgeschriebener Brief der Herzogin versteigert, für 4,99 Euro. Es gab nur ein Gebot. Der Verkäufer des Briefes trägt den Mitgliedsnamen „hochadel“. Und wie schön wäre es, wenn sich dahinter Herzogin Ameli selbst verbergen würde, wenn sie sich abends regelmäßig an den Küchentisch setzen, dort ein paar Zeilen aufs Papier werfen und die dann bei ebay anbieten würde. Ich sehe sie in der Schlange bei der Post, den Umschlag mit ihrem ersteigerten Brief in der Hand, nur zwei Schalter sind geöffnet, vor ihr Menschen mit Paketen, mit Fragen zum Tagesgeldkonto, draußen Regen, der wartende Wochenendeinkauf, und all die Mühe für 4,99 Euro. Sie wird ein paar Blumen malen später, nimmt sie sich vor, zur Entspannung. Und das rührt mich nun doch noch.

5 Strategien, um der Tatsächlichkeit zu entkommen

geschrieben am 07.07.2011

Morgen fahre ich in die Übermorgenstadt. Das bringt mich nicht nur chronologisch in Bedrängnis, sondern auch mein ganzes ohnehin schon wackeliges Konzept gehörig ins Schwanken.

Ich sollte doch virtueller Stadtschreiber sein, ich wollte die Stadt doch nur über das Internet vermittelt beschreiben, und morgen werde ich da mitten drin stehen, wie bei Google Street View, gegen das sich Oldenburg doch so vehement gewehrt hat. Morgen werden unvermittelte Eindrücke an mir kleben bleiben, ob ich das nun will oder nicht, und ich muss mir langsam Gedanken machen, wie ich damit umgehen soll, wie ich die Eindrücke vielleicht doch noch vermeiden kann.

Strategie 1: Ich verlasse das Hotelzimmer nicht. Ich lasse mir die Mahlzeiten vor die Tür stellen. Im Internet schaue ich mir an, was ich ein paar Schritte weiter alles besichtigen könnte. Ich lasse die Wlan-Verbindung drosseln, um mich daran zu erfreuen, dass es zu Fuß schneller gehen würde als online. Augenbinde für die Taxifahrt nicht vergessen.

Strategie 2: Ich tue so, als sei ich gar nicht in Oldenburg, sondern, sagen wir, in Cuxhaven. Ich laufe mit einem falschen Stadtplan durch die Straßen, ich ordne alle Sehenswürdigkeiten falsch zu, ich wundere mich nicht.

Strategie 3: Ich erinnere mich daran, mich in der Übermorgenstadt zu befinden, sodass all meine Eindrücke eigentlich nur Ausblicke auf etwas sind, was ich in der Zukunft erleben werde, kleine Gucklöcher im Raum-Zeit-Kontinuum. Ich hinterlasse eine verwirrende Nachricht an mein zukünftiges Selbst, zum Beispiel: „Vergiss nicht, dein Aufladekabel eingepackt zu haben.“

Strategie 4: Ich betrinke mich maßlos in der Hoffnung, mich an nichts von diesen zwei Tagen erinnern zu können. Sicherheitshalber schlage ich mir auch noch mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf.

Strategie 5: Ich bewege mich ganz normal in Oldenburg. Nur ab und an murmele ich: „Mensch, diese Realität. Was da heutzutage alles möglich ist.“

Harry Potter und der Gefangene vom Lappan

geschrieben am 12.07.2011

Also gut. Ich war gar nicht in Oldenburg. Das konnte ich mir als virtueller Stadtschreiber schließlich nicht erlauben. Ich habe einen Doppelgänger geschickt, auch den findet man schließlich schnell im Internet. Mein Doppelgänger ist Daniel Radcliffe: der junge Mann, der in den Filmen Harry Potter spielt. Bislang wusste ich noch gar nichts von einer Ähnlichkeit zwischen ihm und mir, aber laut findmydoppelganger.com haben unsere Gesichter 74% Übereinstimmung, und das klingt so mathematisch ausgefuchst, dass sich meine Augen wohl täuschen müssen. Nur die besten Gesichtserkenner arbeiten schließlich in den Laboren von findmydoppelganger.com, hochspezialisierte Expertenteams sind das, die sich nicht von Offensichtlichkeiten blenden lassen. Und wenn ich eines gelernt habe als virtueller Stadtschreiber, dann dass man dem Internet stets mehr trauen kann als dem wahren Leben.

Auf Platz 2 der Doppelgängerliste landete übrigens Natalie Portmann, der ich zu gleichermaßen schmeichelhaften wie verstörenden 73% ähnlich sehe.

Daniel Radcliffe musste zwar eigentlich zu den New-York-Premieren seines neuen Films nach London und New York, aber das konnte ich ja für ihn übernehmen, als sein vierundsiebzigprozentiger Zwilling, das fiel niemandem auf. Ihm habe es gut gefallen in Oldenburg, schrieb er mir nach dem Wochenende. Er komme gerne bald mal wieder, vielleicht sogar schon zu den Keramiktagen. Was genau er in Oldenburg gemacht hat, weiß ich aber nicht. Es gibt nur Hinweise in seiner Spesenabrechnung, die mich heute erreichte: Restaurantquittungen aus der „Artischocke“, Museumstickets für eine Moorleichenausstellung, fürs Horst-Janssen-Museum, Belege für ein Tour-T-Shirt der Band Erdmöbel, für Sonnenmilch und einen Regenschirm, für  eine Tretbootfahrt, für unleserliche Getränke in der „Umbaubar“ und leider auch für einen Lamborghini, den er laut Kleingedrucktem im Vertrag immer vor seinem Hotel stehen haben muss.

Um Kosten zu sparen, überlege ich nun, für meinen nächsten Besuch nicht einen Doppelgänger für mich, sondern einen für Oldenburg zu finden. findmydoppelganger.com ist dabei allerdings kaum eine Hilfe. Wenn ich das Oldenburger Stadtwappen als Ausgangsbild eingebe, behauptet die Seite, sie könne kein Gesicht erkennen. Dasselbe behauptet sie bei Bildern vom Schloss, von der Lambertikirche, vom Weihnachtsmarkt, sogar vom Profil eines prächtigen Oldenburger Hengstes. Für die Ignoranten von findmydoppelganger.com ist Oldenburg eine Stadt ohne Gesicht. Daniel Radcliffe würde da entschieden protestieren.