Sabrina Janesch

Sabrina JaneschSabrina Janesch, 1985 in Gifhorn geboren, studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim und Polonistik in Krakau. Sie erhielt bereits Stipendien des LCB und des Ledig House/New York. 2009 war sie erste Stadtschreiberin von Danzig.

Für ihren ersten Roman „Katzenberge“ (2010) wurde Sabrina Janesch mit dem Mara-Cassens-Preis für das beste Debüt, dem Nicolas-Born-Förderpreis und dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet. In „Katzenberge“ macht sich eine junge Frau nach dem Tod ihres galizischen Großvaters auf die Suche nach der Geschichte ihrer Familie. Sie folgt dazu seinem Lebensweg und reist auf den Spuren seiner Herkunft tief ins östliche Polen, nach Schlesien und schließlich nach Galizien. Was sie findet, ist ein Schicksal aus Deportation und Vertreibung. Zwei Jahre später erschien der zweite Roman „Ambra“, der eine deutsch-polnische Familie portraitiert und deren individuelle Familiengeschichte in die deutsch-polnische Zeitgeschichte einbindet. Die junge Erzählerin des Buches, eine Deutsche, bekommt von ihrem polnischen Vater eine Wohnung vererbt. Das Buch wurde dafür gelobt, nicht nur ein großartiges Familienportrait zu zeichnen, sondern zudem ein atmosphärisch dichtes Portrait der Stadt Danzig. Im Juli 2014 erschien der dritte Roman von Sabrina Janesch unter dem Titel „Tango für einen Hund“. Das Land Niedersachsen gewährte ihr für die Arbeit daran ein Jahresstipendium, weil der Roman „mit der Kraft des Humors ein facettenreiches Gesellschaftsbild unserer Gegenwart entwirft“, so die Begründung der Jury.

Von Anfang an

Vor langer Zeit bezog ein Oldenburger Kaufmann notgedrungen Quartier in einem Andendorf. Noch immer erzählen sich seine Bewohner Geschichten über das sagenhafte Oldenburg, von dem ihnen monatelang berichtet wurde.

Ein Oldenburger also, und das mitten in Südamerika.
Nennen wir ihn etwa Enno Gödecke, lassen ihn um 1840 in Oldenburg geboren sein, Kaufmann, Kavalier und Abenteurer, der sich und seinen Textilhandel nach Lima, Peru verlegt.

Wenn es den Gödecke doch bloß gegeben hätte, jenen Schlawiner, Schlaumeier, jenen Galgenstrick und Schlot, aber wie sagt der Franzose –  tant pis! Dann muss man ihn sich eben selber erfinden, sei’s drum

Der Pazifik, das ist etwas anderes als der Jadebusen!
Und die Anden, die sind etwas anderes als der Harz, soviel steht fest.
Señor Gödecke jedenfalls, kaum installiert und etabliert in der Stadt der Könige, vernimmt den Ruf der Berge und ihrer Schätze. Rasch kauft er ein paar Esel, ein Zelt, Küchenutensilien und eine rollbare Rosshaarmatratze. Mit einigen Eseltreibern macht er sich auf den Weg gen Sierra.
Unterwegs folgt er dem Ratschlag seiner compañeros und ersteht für seine indianischen Gastgeber in spe einen Sack voller Kokablätter.

Dann also das altiplano, das Hochplateau. Gödecke bedenkt den Südwinter nicht und kaum, dass er mit Mühe Huaquepata, ein entlegenes Indianerdorf erreicht, schneit es ein, und für den Gödecke geht es weder weiter noch zurück. 

Glück für ihn, dass sich die Bewohner von Huaquepata durch einen wachen Verstand und regen Geschäftssinn auszeichnen. Wie sonst hätten sie es seit Jahrhunderten auf dem Hochplateau ausgehalten; Generation um Generation großgezogen, trotz aller Widrigkeiten und aller Unbill, die 4000 Meter über dem Meer mit sich bringen.

Jedenfalls – wie er da sitzt, besagter Gödecke in seinem gottverlassenen Andendorf und wie er merkt, dass ihm die Kokablätter ausgehen und die Freundlichkeit der Gastgeber im selben Maße abnimmt wie die Zahl der Blätter in seinem Beutel, da erinnert er sich plötzlich an eine seiner Kindheitslektüren: Scheherazade. Mit ihren Geschichten hielt sie den ungnädigen König immerhin tausendundeine Nacht lang bei Laune, und so denkt sich Gödecke: Was für einen König recht und billig ist, soll für die Dörfler von Huaquepata gerade gut genug sein.
Am Abend dann die fragenden Blicke und wieder die Hände, die sich fordernd in seine Richtung strecken. 

Kokablätter, knarzt der Dorfälteste. Das ist die Tradition.
Aha, denkt sich Gödecke, jetzt, Gödecke! – und sagt dem werten Herrn, dass er heute Abend etwas Besseres als Kokablätter für ihn hätte. Heute Abend, sagt Gödecke, gebe es etwas, das viel stärker sei und den Geist in viel erheblicherem Maße beneble, umgarne und verwirre.
Heute Abend, so Gödecke, erzähle er eine Geschichte. Ob man an diesem Orte hier, Huaquepata, jemals von Oldenburg gehört habe? Irgendwer? Nein?
Nun gut.

Das Klima, also, halte man in Huaquepata für harsch und lebensfeindlich?
Im Vergleich zum Klima in Oldenburg sei das noch gar nichts.
Und man selber halte sich wohl für besonders zäh und ausdauernd?
Da habe man wohl noch keine Oldenburger kennengelernt.

Unsere Esel!, piepst da ein Kind aus dem Hintergrund. Unsere Esel sind die schlausten weit und breit!
Das glaube er gern, sagt Gödecke. In Oldenburg aber wären die Esel so schlau, dass es einer von ihnen sogar einmal bis zum Bürgermeister gebracht habe. Aber von Anfang an.

Tiefenkrankheit [ 1 ]

Aber von Anfang an. Nicht nur, dass dem Reisenden der Weg nach Oldenburg durch Marschland, Moore und Sümpfe auf ekligste Weise erschwert wird – am schlimmsten sind die Gefahren, die dem Fremden durch die besondere Tiefenlage Oldenburgs drohen.

Oldenburg liegt lediglich zwei – zwei! – Meter über dem Meeresspiegel. Was das konkret bedeutet, darüber machen sich die wenigsten Reisenden Gedanken.

Denn wer zu schnell aus höher gelegenen Gebieten anreist – und das ist immerhin fast der gesamte Rest der Welt – der darf pro Tag maximal hundert Meter absteigen, sonst drohen rasender Kopfschmerz, Atem- und Schlaflosigkeit. Das wiederum liegt an dem fast schon obszön hohen Sauerstoffgehalt der Luft in diesen Tiefen.

Wer auf erste Anzeichen der unterschätzten Tiefenkrankheit nicht achtet und entgegen aller Empfehlungen nicht in höhere Lagen aufsteigt, dem drohen im schlimmsten Falle sogenannte Tiefenlungen- und Hirnödeme.

Hat man es schließlich nach Oldenburg doch geschafft, sollte man es in den ersten Tagen ruhig angehen lassen und am besten den Eingeborenen nacheifern: Bei jeglicher Gelegenheit soviel Tee in sich hineinschütten als irgend möglich. Das gleicht den Flüssigkeitshaushalt aus und hebt ungemein die Laune.

Falls auch das nichts nützt, so haben die Oldenburger in ihrer rastlosen Fürsorge für Zugereiste einen besonderen Turm errichtet, in dem die Tiefenkranken verarztet werden. Immerhin befinden sie sich dort knapp acht Meter über dem Straßenniveau, und die peinliche Dichte der Luft nimmt nach oben hin wieder etwas ab.

Die Lappen, wie die kränklichen Ortsfremden augenzwinkernd genannt werden, werden dort rund um die Uhr gepflegt, und so heißt der Turm nach jenen, die in ihm darben: Lappan.

Die feurigen Oldenburger [ 2 ]

Aber nicht, dass jetzt ein falscher Eindruck von den Oldenburgern entsteht; etwa, dass sie vom äußerst zurückhaltenden, reservierten, gar kühlen oder abweisenden Schlage wären. Solches mag vielleicht für die Bewohner anderer Städte – ja: aller? – rundherum gelten, insbesondere, aber nicht nur Hamburg, Bremen und Hannover, nicht aber für die Oldenburger!

Die Oldenburger nämlich, trotz aller widrigen Umstände, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen – sagen wir vereinfachend, Wetter, Boden, Sprache, Küche, Gesamtsituation – die Oldenburger also zeichnen sich durch ein Temperament aus, das man bezeichnen muss als feurig, hitzig, inbrünstig und ungestüm im Allgemeinen.

In Oldenburg wurde quasi die Leidenschaft erfunden, und das kam so. Oldenburg war lange Zeit eine Stadt aus Holz, und ihr Fachwerk war der Stolz der Bürger. Nirgends rühmte man sich mehr der Schönheit und Raffinesse der Fassaden.

Schließlich passierte das Undenkbare: Ein großer Brand zerstörte die Stadt und all ihre Holzbauten. Oldenburg war am Boden. Und erhob sich aus seiner Asche. Aus einer Stadt aus Holz wurde eine Stadt aus Stein. Die neuen Häuser bestanden fürderhin aus Ziegeln, die eigens für diesen Zweck in riesigen Öfen gebrannt wurden.

Was kaum einer vorher sah: Die Feuerhitze der Steine bewirkte eine wundersame Wandlung der Bewohner. Wo vorher vornehm gewispert wurde, wurde nun herzhaft gepoltert, wo zuvor spitzmündig der Friesentee gesückelt wurde, wurde nun geschmatzt und gesprotzt; wo vorher Hände geschüttelt wurden, wurde nun geküsst, umarmt, auf Schultern geklopft und generelle Freude am Menschsein gepflegt.

Strahlung, räsonierte man später, habe aus den Oldenburgern das gemacht, was sie heute seien.

Mehr Pfeffer! [ 3 ]

Das Erstaunlichste, was die Oldenburger Küche hervorgebracht hat, ist die Pfeffersuppe. Kenner streiten sich bis heute, ob sie Ausdruck des bereits erwähnten Oldenburger Temperaments ist, dekadente Insignie städtischen Reichtums, oder schlicht ein Kontrapunkt zum üblichen Kartoffel-Rüben-Einerlei.

Auffällig an der Pfeffersuppe ist ihre Zutatenarmut; ihre einzige und somit dezidierte Hauptzutat ist der Pfeffer.

Ob es sich nun um schwarze, grüne oder rote Körner handelt, bleibt dabei dem Geschmack der Oldenburger Hausfrau überlassen. Ebenso ganz nach ihrem Ermessen sind die Pfefferkörner am Ende entweder samtig-mehlig und verbreiten ihr Feuer mit einer trügerischen Sanftheit im Mund; oder sie sind bissfest-körnig und trainieren das Gebiss des Gourmets. Natürlich gibt es ebenfalls Dispute über die richtige Würzung des Gerichts. Zugezogene geben gerne etwas Suppengrün und Salz hinzu; die Alteingesessenen hingegen bestehen darauf, dass die Pfeffersuppe höchstens und nur im Notfalle mit etwas gemahlenem Pfeffer zu würzen sei, alles andere wäre dezidiert neumodisch, in gewisser Weise widerlich und in jedem Fall süddeutsch.

Gekocht wird die Pfeffersuppe vor allem zu besonderen Anlässen, und schon sowieso wenn Besuch aus Bremen oder Hamburg erwartet wird. Wenn den auswärtigen Besuchern – so noch nicht von Tiefenkrankheit beschädigt – bereits die Tränen in den Augen stehen, hauen selbst die Oldenburger Kinder weiter rein. Liter um Liter des Pfeffergebräus verschwindet in den kleinen Leibern.

Mehr Pfeffer!, wird in Oldenburg gerne gebrüllt, und auch im Ausland erkennen sich die Oldenburger an jenem heiteren Freudenruf.