Oldenburg bei Nacht

geschrieben am 01.08.2011

Eine tschechische Bekannte erzählte mir vorgestern, wie sie als Kind nach Deutschland kam, und dass eines der ersten Dinge, die sie sah, ein Aufkleber mit der Aufschrift „Oldenburg“ war. Sie hatte keine Ahnung, um was es sich bei Oldenburg handelte. Sie konnte sich nichts darunter vorstellen. Oldenburg war das erste Rätsel von vielen, die ihr in Deutschland begegneten, und vielleicht liegt es daran, dass sie es nie gelöst hat. Oldenburg wurde zu einem magischen Ort für sie, zu einem Symbol für alles Unbekannte, alles Fremde, für alles, was nur Wort ist und Versprechen.

Sie denke sehr oft an diesen Aufkleber, sagte sie mir und fragte, wie Oldenburg denn so sei. Ich überlegte kurz, ob ich ihr vom diensttäglichen Eichhörnchenmarkt dort erzählen sollte, von der hustenden Kirchturmuhr, vom Oldenburger Bartboykott, der rückwärts fließenden Hunte, vom zweisprachigen Gespenst im Pulverturm, von den fünfbeinigen Pferden im Eversten Holz, dem Liebeskummerfestival im Spätherbst.

Doch ich sagte nichts davon. Ich sagte etwas Kurzes und Vages, und meine Bekannte wollte nichts anderes hören. Weil es vielleicht wichtig ist, noch ungelöste Rätsel zu haben, vor allem wenn es sehr alte Rätsel sind, die man schon Jahre mit sich herumträgt, die einem keine schlaflosen Nächte bereiten, an die man in schlaflosen Nächten aber manchmal denkt und sich freut über alles, was offen ist.