zu Hause bei Mariah Carey [ 8 ]

Eine Wiese aus Federn. Schwebend, darüber, ein Schwarm geflügelter Karnickel. Zwei Kröten mit Fuchsgebissen thronen auf der Fensterbank, erstarrt in einem Zustand großer Erregung. Solche Träume sind den Schlaf wert. Fahles Licht fällt durch die gefrosteten Fenster, Staubpartikel tanzen zeitlupenartig durch den Raum, eine Erdgeschosswohnung in meinem leerstehenden Wohnblock. Er hat sich festgesetzt als Bühne meiner Landschaftsträume. Faszinierend. Die offene Küche geht über in den Esszimmerbereich, auf dem offen stehenden Herd sitzt eine Katze, angriffsbereit, und lächelt mit Menschenzähnen. Notiere ich mit noch schwachen Fingern, hinter dem Vorhang meiner Müdigkeit, in das kleine Heft, das neben meiner Matratze liegt. Eines Tages werde ich diese Gemälde alle umsetzen. Werde das Haus kaufen, abtauchen und ein schauriges Monument erschaffen. Ziellos. Sinnlos. Verstörend und magisch. Kein Mensch wird es verstehen. Ich verstehe es nicht. Es gibt nichts zu verstehen, das gibt es zu verstehen. Man wird den Kopf schütteln und manche werden fasziniert sein. Ich werde mit Tierkörpern malen.

SMS: „Habe zugenommen. Muss mit dir sprechen. Wirklich.“

Mit meinem dampfenden Kaffeebecher schlurfe ich zur Kühltruhe, öffne sie. Sehe mir Aufsichtsrat noch einmal genau an. Die nussbraunen Färbungen seines überwiegend lackartig schwarzen Fells. Die zugefrorenen Augen. Ein gutes Gebiss für einen alten Hund, die hellrosafarbene Zunge erinnert mich an Babys und frisch gestrichene Kinderzimmer. Ich verstehe den Witz seines Namens nicht. Und wie hat sie ihn wohl gerufen? Ich hatte als Junge selber mal einen Hund: Hundenamen müssen immer zweisilbig sein, sonst kann man sie nicht gut rufen. Man ruft seinen Hund zweisilbig. Karl, zum Beispiel, das wäre zu kurz. Rufenderweise würde man Ka-harl daraus machen, zwei Silben. Auf-sichts-rat! Hat sie das im Park einmal quer über die Wiese gebrüllt? Was haben die Leute gedacht? Sie wird „Auf-sicht“ gerufen haben, vielleicht.
Jetzt liegend, steifgefroren in seiner vorletzten Pose, so wie er gestorben ist.
Ich schließe die Truhe.
Festanstellung für einen Hund? Bin ich käuflich? Natürlich. Alles eine Frage des Preises. Zwei, drei Aufträge müsste ich noch erledigen, der Rest ließe sich relativ problemlos verschieben. Nur die Frage, was das soll. Aber was auch immer sie vorhat, kann mir am Ende scheißegal sein. Sie stellt einen Handwerker ein. Und wäre ich ihr Fliesenleger, würde ich ihr Fliesen verlegen und es wäre mir vollkommen scheißegal, ob mir die Fliesen gefallen oder nicht. Ich erledige meine Arbeit, nehme ihr Geld. Was ich mir überlegen sollte, ist mein Preis. Unter diesen Umständen sollte ich pokern. Vielleicht ist so etwas, so jemand, so eine Situation eine einmalige Gelegenheit: Meine Träume zu malen wird ohne Geld nie möglich sein.

Wie kann man eigentlich seinen Briefkasten sperren? Kann man zur Post gehen oder zur Polizei und sagen: Eine bestimmte Sorte von Briefen (zum Beispiel solche ohne Absender) nehme ich nicht mehr an, ich möchte diese Lieferungen nicht mehr erhalten? Einen Spamfilter für die Snailmail?
Dieser debile Penner kann mir doch nicht einfach seinen rumpeligen Keller in tausend Päckchen schicken. Puzzle aus Müll.

Das Leben ist zu kurz, um eine sich bietende Gelegenheit auszulassen.
Eines Tages, ich war sechzehn, zwei Wochen nachdem der Berufsberater bei uns an der Schule war, kam mir beim Fernsehen diese Idee. Und wer weiß schon, wie viele gute Ideen einem so kommen. Ich bin nie einer gewesen, der lang fackelt. Ich weiß noch, habe MTV geguckt, eine Scheißsendung, „Zuhause bei Maria Carey“. Sie zeigte ihren Pool, ihre acht Schlafzimmer, das Privatkino und das Schuhzimmer, was größer als meine gesamte Wohnung war. Ich weiß noch, über 5000 Paar Schuhe und Mariah Carey redete davon, dass sie als kleines Mädchen davon geträumt habe, so viele Schuhe zu besitzen und jetzt … Ach. Da kamen ihr die Tränen und sie drückte den Chihuahua, den sie die ganze Zeit auf dem Arm trug, an ihr Gesicht. Was Menschen für Träume haben … Ich dachte: Wenn ihr blöder Millionärs- Chihuahua stirbt, dann brennts in ihrem rosa Schlösschen. Und da, in diesem Moment, fiel der Groschen, hörte ich es läuten, da klingelte die Kasse. Ich dachte: Ich stopfe ihn ihr aus und zum Dank schenkt sie mir eine Million Dollar.
Ja, ich hatte gekifft. Aber die Idee war auch am nächsten Morgen noch gut. Also habe ich direkt nach den Ferien eine Ausbildung zum Präparator begonnen.
Für Mariah Carey habe ich nicht gearbeitet und Millionär bin ich noch nicht. Aber ich habe eine Eigentumswohnung und ein Auto, mit dem ich, ohne unangenehm aufzufallen, in den Elbvororten tote Tiere einsammeln fahren kann. Ich arbeite viel, aber nicht übertrieben viel. Die Wirtschaft mag in der Krise sein, meine Auftragslage wird jedes Jahr besser. Habe die Preise in den letzten vier Jahren verdreifacht. Tierpräparator!, haben sie alle gerufen.
Ja, sage ich. Das bin ich geworden.

Fahre mit der Bahn Richtung Rieke. Sonnenuntergang. Wirbelnde Schatten, als wir durch die Waldschneise fahren.
Halbes Hähnchen auf dem Supermarkt-Parkplatz zwischen Haltestelle und Wohnblock. Diese Mischung aus Ekel und Genuss wie bei sonst nichts: die fettige, knusprige Haut vom Tier zu ziehen, mir in den Mund zu stopfen, die Finger zu lecken, das Fleisch vom Knochen zu nagen. Und im Kopf die Bilder aus den perversen Massenställen.
Hocke auf der Mauer des Parkhauses neben ihrem rechteckigen Hausblock, fühle mich wie ein Höhlenmensch, schmatzend, das Huhn zerteilend.
Bin ich in irgendeiner Weise gefährlich?
Könnte ich es sein?
Werfe kleine Steine nach ihrem Fenster im dritten Stock. Treffe nicht. Warte, bis sie das Licht im Schlafzimmer ausmacht. In der Küche brennt noch Licht.
Ich gehe zurück zur Bahn. Tippe: „In der Küche brennt noch Licht.“