Auf und zu und verloren [ 42 ]

Ja. Ein kleiner Bauch. Ich sehe ihr zu, starre wie hypnotisiert auf dieses kleine Bäuchlein, als könnte ich dort mehr entdecken, je länger ich hinsähe. Dort also wächst ihr Kind, formt sich ein Mensch, es ist unglaublich. Je länger ich darüber nachdenke, desto unfassbarer finde ich es. Dass dort Leben entsteht. Leben. Echtes Leben.
Rieke rotiert in ihrer kleinen Küche, ich höre es blubbern und knistern, es riecht nach Nudeln und Knoblauch. Ich sitze hier und trinke und rauche nicht, denn meine Schwester ist schwanger und da raucht man nicht, natürlich nicht. Ich komme gar nicht auf die Idee, ihr bei irgendwas zu helfen, ich kann mir jetzt schon denken, dass ich in ein paar Monaten ohnehin für alles zuständig sein werde, und lasse sie machen. Sie hat mich eingeladen, also sitze ich und starre auf ihren Bauch und trinke ein Glas Wein nach dem anderen. Sicher will Rieke irgendwas reden, dafür trinke ich mich in Stimmung und genieße die Ruhe, solange sie damit beschäftigt ist, zu kochen. Wie will ein Mensch, der es kaum schafft, ein paar Nudeln zu kochen, ohne darüber ins Schwitzen zu kommen, eigentlich Mutter sein. Wir werden sehen.

Schließlich sitzt sie mir gegenüber, ich sehe die Schweißperlen auf ihrer Stirn. Sie lächelt und nickt und dann stechen wir die Gabeln in den Klumpen aus verkochten Nudeln. Erinnert mich an Aufsichtsrats Gehirn, das jetzt in Formaldehyd zwischengelagert ist, bis der Glasbläser die Amphore fertig hat. Sogar ich kann besser kochen, dieser Teig ist unzumutbar, wenigstens bin ich schon angetrunken.
„Oh, Mist!“, sagt Rieke nach dem ersten Bissen und schiebt den Teller schnaufend von sich. „Bestellst du was?“
„Wie willst du“, sage ich in rotweingeschwängerter Offenheit, „bloß mal für ein Kind sorgen?“
Sie legt den Kopf schräg und fixiert mich mit zusammengekniffenen Augen.
„Hab ja Brüste“, sagt sie knarzend.
„Die gelten nur ein Jahr, oder?“
„Ich werde mir einfach wünschen, dass ich kochen kann“, ihre Stimme ist bissig. „Oder nein, ich werde mir eine Nanny wünschen, eine Haushälterin, ich werde mir ein Kind wünschen, das sich mit fünf Monaten schon selber Essen zubereiten kann. Brote schmieren, Suppen kochen, mit Stäbchen essen. Und wenn wir hier bleiben, wird das schon in Erfüllung gehen.“
Ich grinse. Probiere die Soße. Spüle den Mundraum mit Rotwein.
„Auch nicht?“, fragt Rieke und ich schüttele den Kopf. „Mistverdammter!“, flucht sie, verschränkt die Arme vor der Brust, sie liegen auf ihrem kleinen Bauch. In mir jagt ein Schauer den anderen, die Härchen meiner Unterarme wiegen in einem nicht vorhandenen Wind. „Du kannst dir also vorstellen…?“, frage ich.
Rieke sieht mich an, lange und saugend, das ist der Blick meiner Schwester, so hat sie mich schon immer anzusehen und zu verstehen gewusst, nur sie. Vielleicht der einzige Mensch, der sich wirklich die Mühe macht mich anzusehen, mich in sich aufzunehmen, in sich hin und her zu bewegen und begreifen zu wollen. Mich nicht abzutun und zum Freak zu erklären. Rieke und all ihre gut funktionierenden Gefühle.
„Ich wollte dir erzählen, wie … Frau Resiak…“
„Was?“
„Naja. Kontakt aufgenommen hat?“
„Ich höre …“
„Also, sie war Teilnehmerin in meinem Yoga-Kurs. Und das war ja schon befremdlich, weil …“
„Ja, klar.“
„Ich hätte Unterricht bei ihr nehmen können …“
Ich nicke, Bikram hätte Unterricht bei ihr nehmen können, bis an sein Lebensende oder bis an das Ende all seiner Leben.
„Und ich weiß nicht genau warum, aber es war schwer geschäftsschädigend. Sie kam, sie machte mit, sie schwieg, aber ihre Perfektion hing im Raum und sie begann immer öfter, sich in ihren eigenen Übungen zu verlieren. Man konnte gar nichts tun, man sah ihr einfach zu, diesen unglaublichen Bewegungsabläufen, man saß und staunte mit offenem Mund. Mit der Zeit wurde mein Unterricht zu Aufführungen von ihr. Meine Teilnehmer ignorierten mich, sie kamen, um sie zu sehen, sie zu treffen. Nur dass Frau Resiak an ihnen nicht das geringste Interesse zeigte. Sie wollte zu mir. Wenn die anderen sie ansprachen, dann schien sie das gar nicht zu merken. Und so blieben nach und nach die anderen Teilnehmer aus, gekränkt, verletzt, verstört, kamen einfach nicht mehr. Schließlich war sie die einzige Teilnehmerin. Für Wochen. Und mir war das völlig gleich, ich spürte, wie diese Frau mich absorbierte, weißt du?“
Rieke sah mich an und ja, ich wusste was sie meinte. Ich wusste es ganz genau. Ich konnte es fühlen, in den Knien, in den Rippen und Brustwarzen, in der Schulter, im Rückenmark, ich konnte es so sehr fühlen, in jedem meiner Barthaare konnte ich fühlen, wie Rieke sich gefühlt hatte, dass alles um sie herum verschwommen sein musste beim Anblick dieser Frau, ihrer Bewegungen, ihrer kleinen, flinken, scheuen Hände, ihrer papierenen Haut und diesen Fallgruben von Augen, grau und wässrig und unendlich tief.
„Ich machte Unterricht nur noch für diese Frau, nur noch für sie stand ich auf, schlief ich ein, duschte ich und putzte meine Zähne, ich richtete meine Tage nach ihr, ich hatte solche Sehnsucht, wenn ich sie nicht sah. Ich hatte immerzu Angst, sie könnte eines Tages beschließen, nicht mehr zu kommen, weißt du?“ Ich nickte, Rieke sah mich flehend an, glücklich, endlich auszusprechen, was ihr offenbar schwer auf der Seele lag. „Du weißt, ich bin ein Suchtmensch, ich kann mich gut fallen lassen, genießen, aber ich hatte eine krebsartig wuchernde Angst, weil ich mir plötzlich nicht mehr vorstellen konnte, ohne diese Frau zu sein, von der ich nichts kannte, die mir so unendlich fern und fremd war und mit der ich kaum gesprochen hatte. Aber sie kam, sie kam immer öfter, blieb immer länger, zahlte immer mehr, ich wunderte mich gar nicht, hatte keine Fragen außer jener, wann sie wieder kommen und wie lange sie dann bleiben würde. Ich hatte einen Meister gefunden oder ein Meister hatte mich gefunden und auserwählt. Das war mein Gefühl.“ Riekes Augen flackern, suchen einen Punkt in meinem Gesicht, können ihn nicht finden, scheint es, werden feucht. „Und dann“, sagt sie und macht eine Pause, senkt den Blick, sieht auf ihre zu einem aufwendigen Knoten verhakten Finger, „dann, an einem Tag, ich weiß nicht mehr genau, wann das war – wir bewegten uns, tanzten, glitten, schwebten durch Raum und Zeit, hob ich ab. Kein Witz, ich verließ den Boden. Ich verließ den Boden, Loris!“ Rieke sieht mich an und um das, was sie dort erzählt, zu veranschaulichen, hebt sie die Knie an, ihre kleinen Riekefüße hängen in der Luft, sie sieht mich an, ihre Augen aufgerissen, Ausrufezeichen. Pause.
„Und dann setzt es aus“, ihre Füße landen auf dem Boden, ihre Hände suchen nach irgendetwas, sich zu halten, finden das Glas Wasser, sie trinkt, ihr Blick irrt durch den Raum, klammert sich schließlich an meine Beine, wandert unsicher und auf Umwegen hinauf in mein Gesicht. „Ich wache auf, Stunden später, vielleicht Tage, wirklich, ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, ich habe in dieser Zeit sämtliches Gefühl für zeitliche Abstände verloren.“ Ihre Unterlippe zittert, Rieke sucht etwas hinter ihrer Stirn, eine Erinnerung vielleicht, findet zu wenig, um daraus einen Satz zu machen. Stockt. Schüttelt den Kopf. „Ich war weg und ich weiß nicht wie lange, Loris, ich habe keine Bilder, keine Erinnerungen, keine Träume. Und als ich aufwache, liege ich auf meiner Yoga-Matte, Frau Resiak kniet an meinem Kopfende, ihre Hände zu beiden Seiten meiner Schläfen, ihre Lippen fast auf meiner Stirn, aber ohne mich zu berühren und ich fühle die Hitze in meinem Kopf, eine Hitze, die unter normalen Umständen Eiweiß stocken lässt, einen Organismus tötet, aber in mir dreht und dreht sich alles so schnell, so unfassbar schnell, dass nichts stockt, nichts stirbt. Loris, sowas habe ich noch nie gefühlt, keine Droge dieser Welt kann imitieren, zu was diese Frau imstande ist.“
Riekes Stimme zittert, schlägt ganz oben an ihren Kehlkopf, sie spricht, wie man spricht, wenn man Angst hat. Angst. Echte, große, pure Angst. Ich fühle, wie ich verkrampft bin, versuche mich zu lösen, lege meine Hand ungelenk auf ihr Knie. Rieke zuckt zusammen, panischer Blick, dann Verstehen, Lächeln, Augenschließen. Ausatmen. Sie schlägt die Augen nicht wieder auf, sondern beugt sich langsam zu mir und flüstert, hakend, als müsse sie bei jedem Wort einen Widerstand überwinden: „Und… in die…ser Zeit, Loris, muss… es… gesche… hen… sein. Ich hab… e keine an… dere Erklä… rung. Ich habe keinen… Freund… kein… en Mann… kei… nen Sex ge… habt. Es ka… nn… es kann… kannnnkann. Es muss… damals passiert… sein. Ich… weiß nicht… wie und wer. Aber… sie muss… mich… pro… grammiert ha… sie muss… mich geschwä… sie muss mir… etw… as eingepflanzt-“
Tränen, Schluchzen, Rieke schlägt kraftlos auf ihren Bauch, ihre Stimme knickt weg. Ich lege meinen Arm um ihren Nacken, „Ssshhhh“, mache ich und fühle ihre Tränen an meinem Hals.
„Was?“, wispern ihre Lippen feucht und leise an meinem Hals, es kitzelt, „was hat sie mir eingepflanzt? Was? Tut? Diese? Frau? Mit uns? Was hat sie vor? Was ist das?“ Sie macht mit ihrer Hand eine Bewegung als wolle sie einen Dolch in ihren Bauch rammen, nur endlos langsam, sanft. „Sshhhh“, mache ich und nichts fällt mir ein, ich lausche nur dem Ticken in mir. „Was… brüte ich… h… ier… aus? Loris! LORIS! Was? Was… is… t meine Rolle? Unsere… Rolle in… diesem ganze… n kran… ken, nicht zu begrei… fenden Puzzle?“ Es schüttelt sie, Schluchzen zerhackt ihre Sätze, ihre Worte. Sie lehnt sich zurück, ihr tränenverschmiertes Gesicht, klein und nass und feucht glänzend nur wenige Zentimeter vor meinem, „Ich will… hier weg… Loris. Ich will… dass das vorbei ist. Ich will. Ich will. Ich will, dass… sie keine… ich will, dass sie-“
Und dann spricht Rieke nicht weiter, hakt sie? Zögert sie? Hat sie Angst?
Ich warte und fühle wie in mir Fragen aufsteigen, wie Bläschen im Wasser vom Grund hoch an die Oberfläche schlingern.
Was denn würde es bedeuten, wenn wir wirklich einen Spalt im Universum gefunden hätten, in dem Wünsche wahr würden? Allen Unwahrscheinlichkeiten zum Trotz, nur als Idee, als Gedankenmodell, was hieße das? Was wäre unsere Aufgabe? Was gälte es zu tun?Was wäre, wenn nicht nur unsere Taten im Wachzustand Konsequenzen hätten, sondern auch unsere Träume. Wenn unsere Träume reale Veränderungen nach sich ziehen würden Wie würden solche Träume aussehen? Wie wären sie zu unterscheiden von dem Leben im Wachen? Ist das, was Rieke mit Frauchen erlebt hat vielleicht ein solcher Traum? Meine Träume, Frauchens Geheimnis?
Wären wir bereit?
Wer wäre schon bereit?
Wäre das die Chance, auf die die Menschheit gewartet hat oder ihr Gegenteil, der Untergang? Der letzte Ausweg, die letzte Chance, ein später Trumpf. Ein Ass im Ärmel. Zur Rettung dieser verkommenen kleinen kurzen Menschheitsepisode auf dem blauen Planeten am Rande der Milchstraße, irgendwo in der Unendlichkeit? Oder gerade nicht? Es würde zu uns passen, dass wir an unseren eigenen Träumen zugrundegehen.
Mein Kopf sirrt. Es glüht zwischen den Ohren. Das Stechen hinter den Rippen ist zum Pumpen geschwollen.
„Kannst du nicht bitte schlafen?“, flüstert Rieke. „Und träumen, bitte?“, ihre Worte kommen jetzt geschmeidig und leise und glatt aus ihrer kleinen verrotzten Schnute. „Damit alles wieder gut wird? Dass sie weg geht? Dass sie …“, und dann kommt nichts mehr. Schnappen. Ein kleines offenes Fischmaul, das nach Luft schnappt. Oder Wasser. Auf und zu und verloren.