Das Grasnarbenfest [ 17 ]

Das wundersamste Fest, das in Oldenburg gefeiert wird, ist wohl das Grasnarbenfest. Leider ist außerhalb von Oldenburg kaum etwas davon bekannt; was daran liegt, dass bei dem Fest die Anwesenheit von Ausflüglern verboten ist. Zu schlechte Erfahrungen hat man in Oldenburg mit Fremden gemacht, die während des Grasnarbenfestes abseits stehen, an ihrem Bier sückeln und sich verhalten über die Oldenburger mokieren: Wie sie sich im Vorfrühling im Schlossgarten versammeln, niederknien, und bei lauter Musik und jeder Menge Bier solange am Gras ziehen, bis es ihrer Meinung nach schon etwas länger geworden ist. Natürlich wird dabei auch regelmäßig mehr Gras herausgerupft, als es den Gärtnern lieb sein kann. Aber die Tradition diktiert nun mal, dass in Oldenburg das Gras schneller wächst, wenn man daran zieht. Und das kam so:

Als der Schlossgarten angelegt wurde, wurde ein bekannter Gartenbauer eingestellt. Große Gärten hatte der bereits in Potsdam und Hannover angelegt. Sandiger Untergrund war ihm mehr als geläufig; das nasse Terrain, auf dem sich Oldenburg befindet, war buchstäblich – Neuland. Und während die Terrassen und Pavillons und Wege Form annahmen, sah es mit der Pflanzenwelt noch spärlich aus. Vor allem der Rasen bereitete den Oldenburgern Kummer. Er wollte einfach nicht wachsen. Sie beschwerten sich so lange über die Langsamkeit des Vorhabens, bis der bekannte Gartenbauer den Vertrag kündigte.

Ganz gesichert ist es nicht, aber als der Herzog ihn bei seiner Abreise fragte: „Ja, was sollen wir denn jetzt mit dem Gras machen?!“, da soll der bekannte Gartenbauer geantwortet haben: „Nu, immer tüchtig daran ziehen!“ Aber wie gesagt, ganz gesichert ist es nicht.

Drachensachen [ 18 ]

„Die Drachen kommen! Die Drachen kommen!“ So schallte es bis vor kurzem noch häufig durch die Straßen von Oldenburg, einer Stadt, der wirklich nichts erspart blieb. Vor allem nicht die Heimsuchungen des Hausierers Bodo Kunewald, der eine besonders feine Antenne für das Nahen der Schuppenwesen zu haben schien. Wann immer es ihm einfiel, rannte er durch die Straßen und Gassen und brüllte wie von Sinnen: „Drachen! Die Drachen kommen!“

Anfangs versteckten sich die Bürger auch folgsam in ihren Häusern, hinter ihren Karren oder dem nächstbesten Erdloch. Drachen? Wer wusste schon so genau, was wirklich draußen in den Sümpfen und Mooren hauste. Mit den Jahren gewöhnte man sich aber an die Ausbrüche von Bodo Kunewald, und niemand zuckte mehr zusammen, wenn er hinter sich schreien hörte: „Drachen!!“ Dennoch konnte die Tatsache, dass niemals ein Drache Kunewalds Ankündigung gefolgt war, niemanden von der Inexistenz von Drachen überzeugen. Insgesamt war das Konzept einfach zu plausibel. Im Mittelalter noch da gewesen, und jetzt, quasi von heute auf morgen, nicht mehr?

Diese Annahme bescherte Bodo Kunewald schließlich eine unerwartete Einnahmequelle. Die besonders Furchtsamen baten ihn um das Anfertigen ebensolcher Lederjoppen, wie er selber eine trug. Denn wenn der Drache kam und einen bei der Schulter packte, so sollte jener Bereich so gepolstert sein, dass die Klauen sich nicht durchbohren konnten. Bodo Kunewald wurde ein respektierter Lederverarbeiter, bis er eines Tages verschwand. „Nu hat der Drache ihn geholt“, flüsterten die Leute, und betraten in der nächsten Zeit nur noch in ihren Lederjoppen die Straßen.

Frohe Ostern! [ 19 ]

Ihr wisst nicht, was Ostern ist? Das sind jene Tage im Frühjahr, da in Oldenburg ein ganz besonderes Spektakel stattfindet, und zwar das der berühmten Hasentunke.  Ein jeder ist in diesen Tagen von der Arbeit frei gestellt und hat sich im Allgemeinen bereits Wochen davor vorbereitet. So eine Hasentunke, dass weiß man, wenn man einmal daran teilgenommen hat, erfordert außergewöhnlich viel Kondition, List und jede Menge Schokolade.

Aber von Anfang an. Die Konditoren der Stadt stellen am Abend des Karfreitag große Bottiche voller Kuvertüre auf dem Marktplatz auf, und so genannte Feuerknechte sind in den nächsten Tagen dafür verantwortlich, dass die Feuer unter ihnen nicht verglimmen, sondern die Schokolade flüssig und einsatzbereit halten.

Der Rest ist Bürgersache. Die Oldenburger ziehen mit buntbeflaggten Stangen und Netzen hinaus auf die Wiesen und veranstalten eine Hetzjagd auf die Hasen, die dort leben. Wann immer es gelingt, einen Hasen aufzutreiben, so wird versucht, die arme Kreatur in Richtung des Marktplatzes zu bewegen. Am Einfachsten gelingt dies, kann das Tier gefangen werden; die hohe Kunst des Hasentunkens sieht aber vor, den Hasen quasi aus eigenem Antrieb heraus in die Nähe der Kuvertürebottiche zu bewegen.

Einmal dort angekommen, bildet die johlende Menge einen so engen Kreis um Bottiche und Langohr, dass diesem kein anderer Ausweg erscheint als der Sprung in die Kuvertüre. Und wieder hinaus, versteht sich, und in voller Schokoladenmontur aufgebracht durch die Gassen der Stadt. In anderen Städten des Landes ist diese hübsche Tradition übrigens verloren gegangen. Da begnügt man sich mittlerweile, Hohlfiguren aus Schokolade herzustellen, die wenigstens äußerlich dem Schokoladenhasen nahe kommen. Darüber aber rümpft, was ein echter Oldenburger ist, die Nase. Das seien keine Frohe Ostern, das seien höchstens Faule Ostern!

Goldenes Vlies [ 20 ]

Kondore? Alpaka-Herden? Andine Hochplateaus? Nichts gegen die Phänomene der Norddeutschen Tiefebene. Wo sonst hätte man schon gehört vom feinsten, ätherischen Vlies der Heidschnucke?

Tatsächlich ist die Wolle der Heidschnucke so edel und so begehrt, dass seit jeher versucht wurde, ihre Überlegenheit gegenüber allen anderen Stoffen zu verheimlichen. Niemand sonst als die Bewohner jener Region im Norden sollte sie spinnen und tragen dürfen; zu groß das Risiko, dass Imitate und billige Fälschungen den Markt überfluten.

Auf der Heide ist die Schnucke in ihrem Element. In Herden ziehen die scheuen Tiere über das Land, und ihre Schnelligkeit und Leichtfüßigkeit sind legendär. Nur die stärksten Exemplare der Menschenrasse vermögen, ihnen nachzustellen. Wenn es einmal gelingt, eine Heidschnucke in die Enge zu treiben, so gilt es nur, sich vor ihrer Heimtücke in Acht zu nehmen. Genau in dem Moment, wo sich der Jäger siegreich wähnt, sammelt die Schnucke ihre Spucke im Schnuckenspuckmaul zusammen und katapultiert sie in das Auge des Angreifers. Der Schmerz ist unerträglich.

Hinweise für Hinreisende [ 21 ]

 

  1. Packen Sie saison-unabhängig. So oder so wird Ihnen in Oldenburg jeder Tag von jeder Jahreszeit etwas bieten.
  2. Bringen Sie für die Einheimischen kleinere Geschenke mit; Postkarten aus der Heimat, Kugelschreiber oder Schreibblocks haben sich bewährt. Bitte sehen Sie aus Respekt vor der Oldenburger Zahngesundheit davon ab, Zuckerhaltiges unter der Bevölkerung zu verteilen.
  3. Vermeiden Sie es, über Politik, Wirtschaft, Sport oder Kultur zu sprechen.
  4. So eigenwillig Ihnen die Bewohner auch erscheinen mögen und es Sie reizt, zu fotografieren: Holen Sie vorher unbedingt die Erlaubnis ein.
  5. Trinken Sie ausreichend (vgl. Tiefenkrankheit)  – etwa die örtlichen Lieblingsgetränke Kaffee und Tee.
  6. Lachen Sie über die Witze, die man Ihnen erzählt.
  7. Handeln Sie! So etwas wie festgesetzte Preise gibt es nicht; und wer den zuerst genannten Preis bezahlt, macht sich lächerlich.
  8. Mit dem Kauf lokaler Printprodukte leisten Sie einen Beitrag zu deren Erhalt. Sie lassen sich bestens als Isolierschicht verwenden, wenn Sie sich einmal setzen müssen.
  9. Unterstützen Sie lokale Touren-Anbieter. Ein Oldenburger weiß am besten, was ein Oldenburger weiß.
  10. Reden Sie mit den Leuten. Geben Sie nicht auf.