Die wahre Schönheit

geschrieben am 03.09.2011

2011_09_03_Bild1_grossIch muss die Hagelkörner schon wieder vertrösten, die Zeit drängt, ich habe keine Zeit für Hagelkörner, in einer Woche ist doch schon die Miss-Oldenburg-Wahl im Einkaufszentrum Wechloy, und ich habe noch nicht meine Bikinifigur, ich habe noch keine Antworten vorbereitet („Weltfrieden“ ist irgendwie durch), ich habe mich noch nicht einmal angemeldet. Online ist mir das zu heikel, der Post traue ich nicht mehr, seitdem ich las, dass ein Postsack fünf Tage lang in einem Oldenburger Hauseingang lag, also muss ich wohl persönlich vorbeigehen (was persönlich für einen virtuellen Stadtschreiber so heißt).

Praktischer Weise sitzt die „Miss Germany Corporation“ (MGC) nämlich in Oldenburg, und lustigerweise ausgerechnet in der Tangastraße (nichts gegen die Tangastraße, man wohnt da sicherlich hervorragend). Ein etwas verstecktes Gebäude ist es, nahe den Bahngleisen, in beruhigender Nähe vom Polizeikommissariat, vom inform-Fitnessstudio und, nunja, vom NDR-Landesstudio.

Ich weiß nicht genau, was ich dort erwarten soll. Eine Art friesische Playboy-Mansion? Eine hochtechnisierte Schönheitsbewertungsfabrik? Nein, die MGC scheint im Grunde ein Familienunternehmen zu sein. Es gibt Horst Klemmer, den Gründer und Seniorchef, seinen Sohn Ralf Klemmer, der als Geschäftsführer fungiert, und dessen Frau Ines Klemmer, ehemalige Miss Germany und nun für Booking&Moderation verantwortlich. Mit meiner Bewerbung würde ich sie bestimmt gerade beim gemeinsamen Kuchenessen stören (Streuselkirsch), was sie sich aber nicht anmerken lassen, mir sogar noch das letzte verbleibende Stück anbieten. Ralfs und Ines’ Sohn tobt durch den Garten, im Wohnzimmer sitzen die Onkels und Tanten und sichten anerkennend Bewerbungsfotos, die Großmutter näht im Ohrensessel die Bademode für das Schaulaufen, zahllose Nichten und Neffen basteln Scherpen, schmieden Gewinnerkrönchen und verpacken liebevoll die Kosmetikpräsentkörbe. Man plaudert, man setzt noch einen Kaffee auf, später kommen, wie jeden Abend, ein paar ehemalige Missen und Mister vorbei, und auch Klaus & Klaus, deren Manager Horst Klemmer früher einmal war, die bringen Grillgut mit – es wird ein langer geselliger Spätsommerarbend, dort in der Tangastraße 13a. Ich schwanke etwas, wenn ich mich schließlich aufmache, das liegt wohl an „Hottes Zwetschgengeist“, der irgendwann die Runde machte. Und bei der Verabschiedung wird mir Ralf Klemmer sagen, dass ich zwar eigentlich etwas zu alt sei für die Miss-Wahl nächsten Samstag (das Höchstalter ist 28), auch etwas zu viel ein Kind habe (Kinderlosigkeit ist Bewerbungsbedingung), und bei genauerem Hinsehen auch etwas zu sehr ein Mann sei, aber da wolle er noch einmal ein Auge zudrücken. „Denn wahre Schönheit“, raunt er mir zu. „Wahre Schönheit, die zeigt sich nur hier“, und dabei deutet er rätselhafter Weise auf sein Knie, aber ich nicke und sage: „Nur da, Ralf, nur da“, und dann umarmen wir uns zum Abschied, und ich laufe nach Hause, immer die Bahngleise eintlang, die Luft riecht schon nach Herbst, die Sterne glitzern wie tausend kleine Krönchen, und ich fühle mich auf einmal sehr geborgen und sehr aufgehoben und sehr schön.

Oldenburg – ein Fest fürs Leben

geschrieben am 09.09.2011

2011_09_09_Bild1_kleinIch muss zugeben, ich bin etwas verwirrt. Das liegt zum Teil daran, dass ich Fieber habe, zum Teil aber auch daran, dass es einfach zu viele Feste in Oldenburg gibt. Das ist für die Feiernden bestimmt wundervoll, als Außenstehenden aber schlicht überfordernd. Seitdem ich virtueller Stadtschreiber bin gab es den Kultursommer, den Hafentag, den Keramikmarkt und das Stadtfest, nun kommt allein in den nächsten Wochen der Kramermarkt dazu, das Filmfest, das Weinfest, der Modeherbst, und nicht zu vergessen: „Osternburg verwöhnt“.

Von außen betrachtet geht in Oldenburg ein Fest gleich in das nächste über, von außen betrachtet müssen Stände und Bühnen nie abgebaut werden, von außen betrachtet muss man als Oldenburger einfach nur irgendwo sitzen blieben, um mit schiefem Partyhütchen auf dem Kopf in eine Feier nach der anderen hineinzugeraten, in einen endlosen Strudel aus Wein und Film und Hafen und Keramikkulturkramerlambertinikolaimodestadtfrühlinggrünkohlundwasonstnochalles.

Und was für ein Schock es sein muss, wenn dann doch einmal ein Wochenende festlos ist, wenn es einmal scheinbar nichts zu feiern oder zu vermarkten gibt, wie erschreckend diese plötztliche Stille sein muss. Das darf nicht passieren. Keinesfalls dürfen die Anlässe ausgehen. Deshalb hier schnell ein paar Vorschläge für die Hinterhand:

Labskaussamstag: Jeden ersten Samstag im März wird ein riesiger Labskaus gekocht. Traditionell gebührt der erste Löffel dem aktuellen Stadtschreiber, der ihn dann weiterreicht, bis jeder einzelne Oldenburger etwas abbekommen hat. Abends wird im leeren Topf Tanzmusik aufgespielt.

Amalienbrückensprungfest: Ende September springen alle männlichen Jugendlichen paarweise Hand in Hand von der Amalienbrücke. Eine Jury bestehend aus der Familie Klemmer kürt den ungelenksten Sprung. Der Sieger darf die Tochter (seit 2001 auch wahlweise den Sohn) des Oberbürgermeisters heiraten. Sollte der Oberbürgermeister keine Kinder im heiratsfähigen Alter haben, wird auf der Stelle ein neuer ernannt.

Straßenfest im Drögen Hasen: tägliches Freudenfest mit Luftgitarrenwettbewerb, Engtanzpflicht und Randale. 24-Stunden-live-Übertragung vom NDR.

Hagelkornlauf: Das größte Hagelkorn des Sommers wird ermittelt und vom Oldenburger Bürger mit den aktuell kältesten Hände im Dauerlauf nach Osnabrück getragen, wo er damit soviel Schaden anrichten darf, wie er will. Sponsor der Hagelkorntage sind die Öffentlichen Versicherungen Oldenburg.

Von Eros nach Oldenburg

geschrieben am 12.09.2011

2011_09_12_Bild1_grossDer Meteorit „Oldenburg“ landete nicht direkt in Oldenburg, sondern etwa zwanzig Kilometer nördlich davon und zwar vorgestern vor einundachtzig Jahren am frühen Nachmittag und zwar nur wenige Meter neben dem Schäfer Clemens Bley. Und wahrscheinlich kann man nur schwerlich von „Landung“ sprechen, das klingt viel zu sanft: es gab einen lauten Knall, als der Meteorit in der Luft zerbrach, dann ein Pfeifen, ein Sausen, ein Sirren, bis sich der Weltraumstein einen halben Meter tief in die Erde grub, und Clemens Bley nach Luft schnappte.

Im Internet finden sich keine Bilder vom Meteoriten “Oldenburg“, aber man kann davon ausgehen, dass er genau so aussah, wie alle anderen seiner Art: körnig mit einer schwarzen Kruste, gleichermaßen fremd wie unspektakulär, von Weitem konnte man ihn leicht mit einer verbrannten Roggenbrothälfte verwechseln.

Natürlich nahm Clemens Bley den Meteoriten mit nach Hause, auch wenn er nichts mit ihm anzufangen wusste. Außer für Naturwissenschaftler ist so ein Meteorit nicht besonders nützlich und darüber hinaus auch nicht besonders dekorativ. Clemens Bley legte ihn auf den Tisch und betrachtete ihn argwöhnisch, so als ob der Stein jede Sekunde wieder anfangen könnte zu pfeifen und zu sirren oder sogar zu sprechen, in einer bedrohlich unverständlichen Sprache, als ob der Stein etwas von ihm fordern würde.

Millionen von Jahren war der Meteorit unterwegs gewesen, nachdem er vom Asteroiden Eros abgesprengt worden war, er flog mit einer Geschwindigkeit von 70 km pro Sekunde durch den Weltraum, kreuzte schließlich die Umlaufbahn der Erde, stürzte ab, um dann genau neben Clemens Bley zu landen. Das war das Ziel seiner Reise. Das war das Ende von etwas, das vor Abermillionen Jahren begann. Und das musste doch etwas bedeuten, fand Clemens Bley. Das musste doch sein Leben ändern. Das war doch eine Botschaft. Aber „Oldenburg“ sagte nichts, er pfiff nicht, er sirrte nicht, er lag nur da, auf dem Tisch, und am nächsten Morgen lag er immer noch da, und am übernächsten auch, und nichts änderte sich, gar nichts änderte sich, und Clemens Bley sah ihn immer seltener an, er begann, sich dem Stein gegenüber schuldig zu fühlen, er begann, sich über ihn zu ärgern, über die Unverfrorenheit, sich so ungebeten und brachial in sein Leben gemischt zu haben, er beschimpfte den Stein, er beschimpfte sein Schweigen, er beschimpfte seine Sturheit, er beschimpfte die Wahrscheinlichkeit und den Weltraum und Erdanziehungskraft, und als der Lehrer Konrad Meyer ihn irgendwann fragte, ob er ihm den Meteoriten verkaufen würde, zögerte er nicht lange. Er nahm das Geld, viel war es nicht, und gab es schnell aus. Ein paar Wochen später wusste er schon nicht mehr, wofür. Er wollte mit all dem nichts mehr zu tun haben.

Homepage

geschrieben am 16.09.2011

„A little less conversation, a little more action please.“ (Elvis Presley)

Dieses Mal ist es gelungen. Ich war in Oldenburg, ohne in Oldenburg gewesen zu sein. Ich habe mich selbst virtualisiert. Das ging ganz leicht. Ich brauchte nur eine ausreichende Anzahl Mikrofone, in die ich sprechen konnte, und eine ausreichende Anzahl Kameras, in die ich schauen konnte, und eine ausreichende Anzahl Wiederholungen der gleichen Frage, die ich an den Kameras vorbei schauend beantworten konnte. Ich musste nur ausreichend gefilmt werden und beim Gefilmtwerden gefilmt werden, und wenn ich mir etwas angeschaut habe, dann habe ich nur so getan, als ob ich mir etwas anschauen würde, weil das von mir erwartet wurde, weil das ein Bild ergab, für die Kameras, für die Vorstellungen, die schon vorher da waren, die man nur noch nachspielen musste, und noch nicht einmal besonders glaubhaft.

Wichtig fürs Selbstvirtualisieren war es, das Medium zur Botschaft zu machen, zur einzigen Botschaft, wichtig war es, in die Mikrofone bloß nichts über Oldenburg zu sagen, bloß nichts über das „Oldenburg“ dieses Blogs zu sagen, sondern immer nur über das virtuelle Stadtschreiben an sich, immer und immer nur über das Wie und das Warum und das Warum nicht anders und das Für wen und das Für wen nicht, und immer wieder und wieder und immer wieder, bis es aus meinen Ohren, aus allen Ohren wieder herauskam, und wenn die Kameras dann aus waren, blieb die Kulisse übrig, diese Stadt, die angeblich Oldenburg war, das wäre leicht zu überprüfen gewesen, aber ich konnte das nicht überprüfen, weil ich selbst gar nicht da war, weil ich nur meine Rolle war, so sehr Rolle, dass ich sie nicht einmal spielen konnte.

Und wie seltsam handfest fühlt es sich nun an, zurück im Internet zu sein, zurück im virtuellen Oldenburg zu sein. Ich öffne Google Maps, gebe „Oldenburg“ in die Suchmaske ein, zoome mich zur Verkehrsinsel am Schloss, und ich fühle mich ein wenig zu Hause.