Bonuslevel [ 19 ]

Lohmann ruft an. Treffen uns beim Asiaten. Er macht immer so eine Geheime-Übergabe-Nummer daraus. Schiebt mir irgendwann die raschelnde Papiertüte über den Tisch. Muss kurz und halblaut lachen. Lohmann sieht sich um, schockiert. Das könne ihn seinen Job kosten. Jaja, sage ich, ‚tschuldigung, zu viel Sake. Bestelle Whiskey. Ich mache die Tüte auf und gucke rein. Lohmann räuspert sich und macht dicke Augen. Als ob jetzt ein Sondereinsatzkommando reinstürmen würde, um mir meine bunte Tüte aus den Händen zu reißen und Lohmann an die Wand zu stellen. “Alter, danke für die Lakritzschnecken”, sage ich. Lohmann grinst wie ein dummer Spast. “Ich muss mal kacken”, sage ich und verschwinde mit dem Eierbecher voll Sake im Klo. Drücke mir zwei winzige weiße und eine blaue Pille in die Hand, spüle sie mit Sake runter, gucke auf die Uhr. 21:44. Zehn nach zehn, schätze ich, gehts los. Als ich zurück komme, steht Lohmann schon in Jacke vor dem Tisch und tippelt von einem Fuß auf den anderen. “Setz dich, der Whiskey”, schnarre ich. Lohmann setzt sich, “Du hast nicht…”, sagt er. “Was ist was?”, frage ich.

Ich bin in einem Computerspiel. Tunnel, Gänge, Hindernisse. Zauberhaft animierte 2D-Welt. Nichts von alldem hinterlässt einen Eindruck auf der Haut. Nichts berührt die Sinne. Ausgenommen: Augen. Licht prügelt mir ins Hirn. Als ich an einem Spiegel vorbeigleite, sehe ich meine komplett schwarzen Reptilienaugen. Alle Klänge dumpfes Mampfen. Alle Gedanken und Gefühle, die jemals in mir herumwaberten, stehen wie Kaffeetassen vor mir in einem gutsortierten Schrank. Ordentlich aufgereiht, ich kann sie herausnehmen und in den Händen halten, auf den Boden werfen oder ausspülen. Abstrakt, kühl, glatt. Auf der Straße Schaum aus waberndem Nichts. In nicht mal hundertfünfzig Jahren sind alle Menschen, die jetzt leben, Kriege führen, lieben, erfinden, lügen, bauen, forschen, vergewaltigen oder Schuhe verkaufen, ausnahmslos tot. Keiner mehr da aus dem Jetzt, um das wir uns alle drehen. Durch meine Reptilienaugen betrachtet besteht die Welt aus dämlichen Adventures. Nehme, drücke, ziehe. Laufe diese Straße entlang, kaufe ein Eis, es macht dich schneller. Piss in den Gulli und bieg um die Ecke. Gummischritte, Leute glotzen, Kinder lachen. Ich bin schneller als alle. Finde den Hauseingang. Hole den Schlüsselbund aus deinem Inventar. Benutze Schlüsselbund mit Haustür. Fail. Warte hier, bis jemand die Tür öffnet und gleite dann hinein. Sei ein Agent, sei unauffällig. Warte im Busch. Dann steht ein brummendes Männchen vor mir. Brummt es? Brüllt es? Welche Sprache spricht das Männchen? Gegner oder Freund? Benutze Mund mit Männchen, starte Konversation. Zunge versagt. Liegt als tauber Klumpen im Maul. Ich kaue, bis ich Blut schmecke. Männchen hebt Hände und verschwindet im Hauseingang. Check. Gleite hinterher. Treppen hoch. Letzte Treppe auslassen und außen am Treppengeländer entlangklettern: Bonuslevel. Dann Wohnungstür. Benutze Schlüsselbund mit Wohnungstür. Fail. Benutze Kreditkarte mit Wohnungstür. Fail. Benutze Fuß mit Wohnungstür. Und nochmal. Und nochmal. Check.
Sitze übergangslos als Eidechse auf dem Küchentisch und schnappe nach Fruchtfliegen. Zunge plötzlich hochelastisch. Der einzig bewegliche Körperteil. Schnitt. Kühlschrank: Entkorke Weißwein, benutze ihn mit Mund. Käse, Wurst, Joghurt. Muss lachen. Weil ich mich plötzlich vom Pluto aus hier stehen sehe, als zugedröhntes Eichhörnchen. Meine Eidechsenzunge fährt Karussell im Joghurtbecher. Wo bin ich eigentlich?
Schnitt: Schwebe durch die zweieinhalb Zimmer. Erkenne das Bett, die Bilder, Fotos an den Wänden. Komisches Gefühl: Erkenne alles. Wie Buchstaben. Schon mal gesehen. Die immergleichen dreißig Buchstaben, die immer neues ergeben. Dann hämmert mein Körper meinen Kopf gegen einen Holzschrank, vielleicht fünf Minuten lang. Im Fenster erkenne ich das Blut an der Stirn, Joghurt und Milchflecken auf meinem Pullover, aus meinem Eidechsenmaul tropft ebenfalls Blut. Das also bin ich? Wo ist eigentlich Lohmann? Ich lege mich in ein Arbeitszimmer und baue mir eine Höhle aus Büchern. Ein Haus. Ein Palast. Ich schwebe und die Bücher tanzen.
Schnitt.

Keine Ahnung, wie spät es ist. Rieke und zwei Polizisten stehen vor mir. Auf meinem Bauch und auf meinem Kopf liegen ein paar Zeitungen und Bücher. Ich spüre einen großen blauen Schmerz in meinem Mund und habe ein Gefühl in der Brust, als hätte jemand mich mit einem stumpfen Löffel ausgehöhlt. Ich habe Kopfschmerzen, rostbraunen Schorf an der Stirn.
“Schon gut”, sagt Rieke. “Danke, dass Sie gekommen sind. Das ist mein Bruder, kein Einbruch. Gehen wir in die Küche …”
Stunden vergehen oder Minuten. Ich kann mich nicht bewegen. Lohmann, der alte Hexenmeister. Pharmazeuten sind die wahren Propheten. Zwanzig, dreißig Jahre noch, plus ein bisschen Neurobiologie und wir alle können unsere Hirne zusammenschalten. Ein einziges großes Hirn. Das Ende aller Schmerzen. Das Ende aller quälenden Fragen. Nur noch euphorische Liebe (oder was immer du willst). Nie war es mir so klar wie jetzt, wo ich in meiner eigenen Kotze liege. Beulen, Kratzer, Blut. Ein Unwetter im Pansen. Drei winzige Pillen, wahllos herausgepickt, weniger als 0,0001 Prozent meines Körpergewichts. Ich war im Universum, ich war ein Reptil, ich war ein Computerspiel. Alles geht. Alles. Ich warte sehnsüchtig.
“Loris”, sagt Rieke. “Da bist du.”
Sie kommt mir näher und sieht sich um, hebt die Schultern, Tränen in den Augen, fragt: “Warum?”
Meine Zunge ist so zerkaut, fühlt sich an, als wäre eine Herde Pferde darüber galoppiert.
“Warum hast du alles kaputt gemacht?”
Und da muss ich lachen, nicht nur ein bisschen, sondern tieftief aus meinem Inneren. Und wie ich mich so brüllen höre, denke ich, dass ich zurück bin in mir selbst. Ich lache. Ich. Aha.
Ich taste nach meiner Hosentasche, finde Lohmanns bunte Tüte, ziehe sie vor und werfe sie Rieke hin.
“Ich habe alles kaputt gemacht, ja?”
“Die Tür, die Küche verwüstet, das Bett eingepisst…”
“Dich hab ich noch nicht kaputt gemacht-”