Der Riekekern [ 24 ]

Koche Haferflocken in Milch, Zucker und Zimt. Auf diese Weise begonnene Tage könnten gelingen, denke ich und rühre. Projekt: gelungenes Leben. Warum eigentlich nicht? Man muss gar nicht auf Selbstzerstörung laufen, nur weil man das Gefühl hat, die Welt hätte sich gegen einen verschworen. Ist nur mittelmäßig logisch, sich selbst zu schwächen, bevor man in den Kampf zieht. Eine halbe Schachtel Zigaretten und Rotwein zum Frühstück, das geht. Und kann witzig sein. Aber im besten Falle für drei oder vier Stunden. Porridge kann langweilig sein und nach überstandener Kindheit schmecken, aber man bekommt keinen ergiebigen, bröckelig gelben Husten davon und keine bohrenden Kopfschmerzen. Vier verpasste Anrufe. Vier Mal Rieke. Ich war einfach aufgestanden und gegangen. Hatte sie mit ihrer zertretenen, zerrissenen, vollgepissten Wohnung allein gelassen. Mein schlechtes Gewissen groß wie ein Mückenbein, eine kichernde Erinnerung an einen zügellosen Nachmittag. Hatte mir am Abend noch überlegt, wann ich das mal wiederholen würde. Vielleicht sollte es eine feste Einrichtung werden: einmal alle zwei Wochen meine Schwester besuchen. Ihr einen Besuch abstatten. Nein, nicht ihr, ihrer Wohnung. Sie zerleben. Rieke die Aufmerksamkeit geben, die ich ihr einst versprochen hatte. Ich würde mich immer um sie kümmern. Mich kümmern. Das wollte ich. Und das werde ich. Ihre Nachricht: “Loris, ich bin dir nicht böse. Ich verstehe deine Wut. Kannst du bitte mit mir sprechen. Ich brauche deine Hilfe. Dringend. Es ist wichtig.” Ich bin nicht einfach einer, so wie andere.

Rieke zum Beispiel, die einfach Rieke ist, die nicht anders kann, als Rieke zu sein, die von Anfang an immer schon Rieke war, nie anders. Kleine hilflose Babyrieke, Kleinkindrieke und Jungefraurieke, aber immer Rieke. Wie etwas, das schon mit sich selbst geschlüpft ist, mit einem unveränderlichen Kern, einem Riekekern, der sich in dieser Welt nur noch auswachsen, zurechtwachsen musste. Rieke macht alles immer auf ihre Art, sie könnte niemals Sachen machen, die Rieke eben nicht macht. Sie könnte kein Fleisch mehr essen, sie könnte nicht stehlen, nicht morden, sie kann sich nicht außerhalb ihrer Selbst denken. Sie würde es nie lernen, beim Essen nicht zu kleckern und zu krümeln. Ich habe keinen solchen Kern. Ich bin nicht ich. Ich bin nur ein Projekt. Ich kann alles machen. Dramatisch gesehen: ich bin zu allem fähig. Alles ist denkbar, alles wäre möglich. Nicht, dass es keine gelernten Koordinaten gäbe, Regeln, die ich verinnerlicht habe, aber nichts wäre von meinem Innersten her und von vornherein ausgeschlossen. Das Projekt ist ein kompliziertes System aus Erfahrungen, genetischer Disposition, Instinkten, sozialer Prägung, Umwelteinflüssen und Zufall. Es hat keinen Sinn, kein Ziel (Selbsterhaltung, naja), es existiert einfach. Vielleicht würde ich mich deshalb nicht für mich interessieren: Weil ich nicht bin. Ich sende nicht, strahle nicht, leuchte nicht. Ich schlucke und absorbiere. Verdaue. Geschichten, Menschen, Erfahrungen. Ich sauge sie auf, ich akkumuliere, aber ich bleibe ein Mosaik, die Teile setzen sich nicht zusammen zu einem Ganzen, zum Ich, zu mir. Wer einen Kern hat, der kann Erfahrungen einsammeln und sich gemütlich von Innen her sein Ich damit tapezieren, ich kann nur aufkleben von außen, mir Eigenschaften angewöhnen, Gesichter anheften, mich verkleiden als einer. So sein. Mich durchmogeln und Projekte machen. Sich bietende Gelegenheiten nutzen. Was sonst? Ich setze mich einfach nicht zusammen, bin aber nunmal hier. Esse den warmen, süßen Brei. Trinke den Tee. Schäle das Obst. Dann doch Kaffee. Dann doch Zigaretten (zwei). Aber keinen Wein. Tippe: “Ja.” Lösche. Tippe: “Nein.” Lösche. Finger zittern. Schimmern bläulich kalt. Habe keine Hose, keine Socken an. Öffne den Ofen, stelle ihn an und ziehe meinen Stuhl davor. Zweihundert Grad. Tippe: “Rieke. Rieke. Rieke. Ich bins, Loris. Loris. L. O. Ris. Dein Bruder. Exbruder. Halbbruder. Ich will dir immer noch weh tun. Ich will dich immer noch bestrafen. Mein Tipp: Geh mir aus dem Weg, noch mindestens zwei Jahre, vielleicht zwanzig. Irgendwann wird Gras gewachsen sein über meine Narben, über mich. Dann kannst du mich besuchen, mit deinen neun Zehen auf mir gehen und mir Blumen auf die Brust pflanzen. Es liebte dich: Loris.” Stecke den Kopf in den Ofen. Probehalber? Ist kein Gas. Blechernes Donnern, Umluft. Heißer Windzug. Facial Sauna. Ohren kribbeln. Nach zwei Minuten Antwort: “Ich komme dich jetzt besuchen, es ist ernst. Du musst mich retten. Bitte.” Ofen aus und los. Springe in meine alten Sachen und verlasse das Haus.