Keine Sorgen mehr [ 36 ]

“Bei ihr ist das so eine komische Mischung.”
“Was meinst du?”, fragte ich und Rieke kniff die Augen zusammen. Sie griff nach ihrem Schnürsenkel und zog daran.
“Sie ist stark und schlau. Sie hat… so… sie kann alles machen. Ich glaube sogar, sie kann… ich weiß nicht …”
“… Einem in den Kopf gucken? Gedanken lesen?”, fragte ich etwas zu laut.
Riekes Mund klappte auf, sie hielt inne, als wollte sie etwas sagen, würde aber daran gehindert, als verhake sich etwas in ihr. Sie schüttelte ganz leicht den Kopf und deutete mit ihrem gekrümmten Zeigefinger undeutlich auf ihr verkantetes Kinn. Dann schien sich der Krampf ganz plötzlich zu lösen und Rieke sagte ganz flüssig:
“Nein.” Sie sah mich gierig an. Untersuchte mich. Sagte dann: “Menschen führen. Das ist es. Sie kommt mir vor, wie eine Sektenführerin, weißt du, so eine Lichtgestalt, eine…”
“… Heilige!?”, lachte ich. Und Rieke lachte mit mir, aber nur um unser Lachen dann jäh zu unterbrechen und mich ernst anzublicken, starr: “Ja. Vielleicht auch das. Irgendetwas hat sie, es ist nicht normal. Bei allen anderen Menschen kann ich immer fühlen, was gut ist und was schlecht. Das weißt du, ich habe das einfach in mir. Aber bei ihr, da kann ich es nicht. Es ist wie eine Dimension, die ich nicht fassen kann. Ich habe kein Gefühl zu diesem Menschen und das macht m….”
Und wieder schien sich etwas in ihrem Inneren gegen das Aussprechen weiterer Worte zu sperren. Aber mir reichte, was ich gehört hatte, die Worte waren auf meine Brust getropft, langsam sickerten sie ein. Ich legte meinen Arm um meine Schwester und zog sie zu mir heran. Legte meine Lippen sanft auf ihren Scheitel und fühlte, wie langsam die Verkantung aus ihr wich. “Ich bin jetzt wieder da”, sagte ich. “Du hast einen Bruder, du brauchst keine Sorgen mehr”. Ich sagte es aus Versehen so. Was ich sagen wollte: “… also musst du dich nicht mehr sorgen.” Aber das sagte ich aus irgendeinem Grunde nicht. Ich korrigierte mich allerdings auch nicht, weil ich wusste, dass Rieke mich verstanden hatte, denn sie schmiegte sich an mich, grub ihr Gesicht in meinen Hals. Es klang trotzdem wie ein Versprechen. Sollten wir Angst haben?
Ich drückte Rieke an meine Seite, wie man Mull auf eine Wunde drückt, aber der Schmerz blieb, das Stechen südlich der Rippe. Nicht schlimm, eher schabend.
Sie legte ihre Lippen auf mein Ohr und flüsterte: “Lass uns gehen.”