Solange ich renne [ 52 ]

Die Nacht fällt zwischen den Wipfeln auf uns herab. Umgibt uns lichtlos und fremd. Unter meinen nackten Füßen: Waldboden. Stöcke, Nadeln, Dornen bohren sich hinein, so egal. Ich renne. Rieke hält mich fest umklammert, ich habe sie huckepack, ihre Arme schnüren mir die Kehle ab. Egal. So egal. Ich brauche keine Luft, ich spüre keinen Schmerz, ich will nur wegweg. Reißaus. Insekten sirren, Grillen zirpen, Frösche, unbekannte Vögel, aus der Ferne ruft ein Uhu, ich finde meinen Weg im Sprint, trotz Dunkelheit. Ich habe nicht ein Mal darüber nachgedacht, wie ich Onkel finden kann. Wo könnte er sein? Wo rennen wir hin? In einen unbekannten Wald hinein, immer tiefer. Ohne Ziel, ohne Plan. Nur weg, weg von allem was passiert ist. Frauchen und das Ende. Ich muss meine Schwester retten, in Sicherheit bringen. Unser Kind. Unser. Kind. Ich muss den See finden, dort wird Onkel uns abholen, denke ich. Komm schon, Loris, komm schon. Jetzt nicht schlapp machen, jetzt nicht verzweifeln, nicht den Kopf verlieren. Es schlägt so heftig. Schlägt so heftig. Ein Pendel, das immer wieder neu ausholt, eine Abrissglocke. Ich habe Angst, eine alleszerfressende, riesengroße Angst, aber so lange ich laufe, holt sie mich nicht ein, ich habe einen winzigen Vorsprung, renn, Loris, renn. Der See. Und die Hand ins Wasser. Der Arm eine Nabelschnur. So lange ich renne, kann uns nichts passieren.
So lange ich in Bewegung bin, sind wir in Sicherheit.
Wo ist die Ruhe? Wo ist das Glück, ich habe es doch längst erlebt. Und ich schließe die Augen, renne weiter, etwas muss uns retten. Wer sind wir jetzt?

Onkel, denke ich und halte mich daran. Onkel, du, großer, alter Mann. Schwer bist du, deine braune Haut und die blauen Augen, redest kaum, bist stark wie zwei Bären, sanft wie ein Haustier, bist so anders, so sicher, so weise. Du bist die Ruhe und Gelassenheit. Du bist der Frieden und die Autarkie. Du bist weg von allem und viel mehr hier. Komm schon, Onkel, zeig dich, komm zu mir, rette uns. Zeig uns, wie man im Wald lebt, wie man einen Unterschlupf findet. Bitte, koch uns einen Tee, sag uns, welche Wurzeln essbar sind. Ohne dich geht es nicht. Ich renne und renne. Ohne dich ist das hier nur ein Ort voller Bäume. Ohne dich sind wir nur zwei Wichte in einem fremden, großen Land. Tröste mich, Onkel, nimm mich in deine starken Arme und sag mir, dass es nicht meine Schuld ist. Sag mir, dass es richtig war. Sag mir, dass Schuld gar keine zulässige Kategorie ist, dass es um ganz anderes ging, um Rettung. Nicht nur unsere. Sag mir, dass es richtig war.
Meine Lunge brennt, brennt so hart. Als hätte ich siedendes Öl getrunken. Die Oberschenkel prickeln wütend, Rieke schluchzt leise in mein Ohr, mein Hals ist nass von ihrem Rotz, ich bin immer für dich da, flüstere ich vor mich hin, wie ein Mantra, immer wieder: Bin für dich da. Immer für dich da, immer für dich da, für dich da. Ich bau dir eine Höhle, ich sammele dir Beeren, wir haben einen Onkel, einen merkwürdigen Schrat, einen Kauz, einen Mann, einen Waldmenschen, einen Aussteiger, der es vorgemacht hat. Wir brauchen nichts, wir haben uns, so sehr uns. Keiner wird uns stören, keiner finden, keiner wird uns vom Gegenteil überzeugen. Was wir tun, ist das einzig richtige.
Und dann kann ich nicht mehr, kann Rieke nicht mehr halten, keinen Schritt mehr gehen, kann das Brennen nicht mehr ertragen und ich bleibe stehen, lasse Rieke ab, falle auf die Knie. Kriege kaum mehr Luft in die heißen, blutenden Lungen, ich falle vornüber, kotze, würge, speie. Rieke legt ihren Kopf auf meinen Rücken, ich höre sie leise weinen, sie streichelt meine Seite. „Loris“, flüstert sie, „Loris“. Mit letzter Kraft verscharre ich mein Erbrochenes und sehe meinen Händen zu, meinen gut funktionierenden Händen, rostbraun im Dunkel der Waldnacht. Mit der feuchten Erde versuche ich, das getrocknete Blut von meinen Händen zu reiben, von meinen Unterarmen. Wie Frauchen röchelte. Wie dunkel das Blut. Wie sie trotz allem lächelte. Irgendwie erlöst.
Wird man uns finden?
Und in diesem Moment, da ich es denke, höre ich ein leises Knacken irgendwo im Dunkel. Ist das Onkel? Ist das die Polizei oder Frauchens letzte Rache? Gruber?
Mein Herz schlägt auf mich ein, Rieke und ich, wir halten den Atem an. Unsere Hände sind ineinander verkrampft. So viel Sorge, denke ich, es wird Zeit, endlich mit dem guten Leben zu beginnen, auch für den kleinen Menschen. Es wird Zeit und da schält sich aus dem Dunkel ein Schatten und ich erkenne: eine Kuh. Dampfender Atem. So hört es auf. So fängt es an.
Das ist also das Ende, denke ich.
Und irgendwie wird es jetzt weitergehen.

***Ende***