Wahrhaft schöne Blüthe [ 22 ]

„Nichts in diesem Lande ist aufgeregt, seine Glieder zucken nicht konvulsivisch, es trägt keine tollen Hirngespinste im Kopfe, und doch ist’s in diesem sehr lustig, hell und sinnig. Wohl selten findet man einen so praktisch vernünftigen, so ruhig denkenden und doch so gemütlich warm fühlenden Menschenschlag wie diese Oldenburger.

Es sind nordische Naturen an Ruhe, Besonnenheit, Biederkeit, südliche an Herz und Gemüth. Schwerlich wird jemand auch nach kürzestem Aufenthalte das Land verlassen können, ohne den Bewohnern gut zu sein. Es ist hier, was schlichte, offene, redliche Charaktere betrifft, das Deutschthum in wahrhaft schöner Blüthe zu finden.

Der helle, freie Gedanke, welchem man überall begegnet, thut nicht minder wohl. Diese Intelligenz ist durchaus naturwüchsig, nicht geziert, gemacht, nicht treibhausartig, auch nicht mit so vielen, herben, ätzenden Bestandtheilen des Ironischen versetzt, wie z. B. die Berliner.“

So schreibt Joseph Mendelssohn in „Eine Ecke Deutschlands“, erschienen 1845 in Oldenburg, Verlag Gerhard Stalling.

Der Große Club [ 23 ]

Das ewige Mokieren und Naserümpfen könnt ihr euch sparen! Leben in Oldenburg ist in Wirklichkeit viel anstrengender, aufreibender und ermüdender, als ihr euch jemals vorstellen könntet. Dieser Umstand hat vornehmlich mit dem Strom der Zeit zu tun, der über der Gegend von Oldenburg  – nur Wenige besitzen davon Kenntnis – an Fahrt aufnimmt und wesentlich schneller fließt als andernorts.

Als Folge muss man hierzulande alles in etwa doppelter Geschwindigkeit erledigen als anderswo. Das Tagesgeschäft? Die Politik? Das Großziehen der Kinder? All das geschieht in einem ungezügelten Rausch, denn bevor man’s sich versieht, ist der Tag schon wieder vorbei, die Zeit hat sich selbst zermahlen, und der Abend bricht an.

All das wäre ganz unsäglich, gäbe es nicht den Großen Club – einen Schutzraum für geplagte Bürger. Im Herzen der Stadt nimmt sein stattliches Gebäude die Funktion eines Bunkers ein, und wer sich in ihn hinein rettet, ist vorerst sicher. Der Strom der Zeit teilt sich vor dem Club und fließt an ihm vorbei, ohne ihn zu berühren oder auf ihn einzuwirken. Die Mitglieder haben nun die Gelegenheit, sich dem Studium von Zeitungen, Magazinen und gelehrten Gesprächen zu widmen – Dingen, die den Bürgern sonst für gewöhnlich verwehrt bleiben.

Italienische Reise [ 24 ]

Und dann kam irgendwann die Mode auf, in den Süden zu reisen. Die Heide reichte plötzlich nicht mehr; Hamburg, Kopenhagen und Paris schienen fad, abgeschmackt und nichtssagend. Die größten Gelehrten und Denker aller Länder zog es in ein Land, das da hieß: Italien. Von ihren Abenteuern und Erkenntnissen wurde man daheim bestens unterrichtet durch die Bücher, die nach der Rückkehr veröffentlicht wurden. Schnell wurde klar: Kein Leben war komplett ohne jene große Reise! Keine Bildung umfassend ohne jenen Erfahrungsschatz, den man nur im Süden sammeln konnte!

So wurde der Druck auch auf die Oldenburger Gelehrten immer größer – bis sich ein erstes Expeditions-Grüppchen ein Herz fasste und im Morgengrauen eines Apriltages sich in eine Postkutsche setzte. Ziel: Italien. Man hatte eigene Bettwäsche dabei (von den Herbergen in den Alpen wurde Schreckliches berichtet), Pistolen (von den Herbergsvätern noch Ärgeres) und schließlich ausladende Hüte gegen die Südsonne.

Doch kaum war die Expedition abgereist, noch im Dunkel der Nacht, senkte sich ein Nebel über den Norden, dem Kutscher wurde es bang, Trost brachte eine Flasche Korne, die er unter seiner Lederjoppe mit sich trug (natürlich, die Drachen). Einige Tage lang also fuhr man durch jenen undurchdringlichen Nebel; ab und zu meinten die Reisenden, Anhöhen zu passieren, gar an Luftnot zu leiden – das, so sagten sie sich, müssten dann wohl die Alpen sein. Als es viele Tage später aufklarte, hatten sie gerade ein Städtchen erreicht. Die erste Stadt in Italien, so versicherten sich die Reisenden gegenseitig. Der Kutscher schwieg. Die Flasche war schon lange leer. Im Kreis gefahren, er?

Wie sonderbar es sich doch mit diesem Italien verhielt! Das Wetter war tatsächlich vorteilhaft; heiß beinahe – doch alles in allem, wenn man sich das Städtchen besah, Oldenburg sehr, sehr ähnlich. Beinahe identisch! Das Schloss, die Kirchen, Kapellen und Türme …  Italien, so kam die Reisegruppe schnell überein, habe sich in der Vergangenheit hauptsächlich an Oldenburg orientiert. An Eigenständigem gäbe es wenig bis gar nichts.

Eine Spitzenidee [ 25 ]

Im Osten aber lebte der blutrünstige Stamm der Preussen; bekannt war er vor allem für sein Militär, und speziell für die Helme, die er den Angehörigen desselben aufsetzte. „Helm mit Spitze“ sollten die offiziell heißen. Genannt wurden sie trotzdem bloß Pickelhauben, wegen der pieksigen Spitze. Angeblich sollte die Spitze Hiebe ablenken und so den Träger des Helms schützen.

Die Oldenburger erkannten direkt, dass die Sache mit dem Hiebe ablenken bloß ein lascher Vorwand vor. Der eigentliche Vorzug jener Pickelhauben lag darin, den Träger möglichst lässig aussehen zu lassen. Preussisch wollten die Oldenburger sicher nicht sein. Aber lässig auf alle Fälle. Es dauerte nicht lange, und der Helm mit Spitze wurde auch in Oldenburg eingeführt. Das war im Frühling. Und was für ein Frühling das war!

Aber dann kam der Sommer. Es half ja nichts. Und mit dem Sommer die Sommergewitter. Beim ersten Treffer wurde noch tapfer geschwiegen. Beim Zweiten schon nicht mehr so. Und als schließlich der dritte Soldat mit Pickelhaube vom Blitz getroffen wurde, da wurde es selbst dem Militär zu heikel. Die Hauben wurden flugs wieder abgeschafft. Diese Dinger, schrieben die Offiziere, wurden von den Preussen ersonnen, die Feinde zu blenden. Nicht aber die Oldenburger! Verkohlen könne man sich schließlich selber.

Oldenburger Mundbewaldung [ 26 ]

„Die Oldenburgischen Offiziere tragen keine Schnurrbärte. Ehemals war das anders. Es wucherten die schwarzen, braunen und blonden Muthbezeugungs-Haarbüschel sehr üppig  auf den Oberlippen unserer Vaterlandsvertheidiger. Die verstorbene Großherzogin fand jedoch, dass die zur Tafel gezogenen Offiziere in dieser Mundbewaldung sehr unappetitliche Vorrathskammern der servirten Gerichte anlegten, dass sie eben so viel mit den Schnurrbärten wie mit dem Munde aßen.

Die hohe Dame äußerte sich darüber missfällig gegen ihren Gemahl und dieser, galant, verbindlich, wie immer, befahl eines schönen Morgens diktatorisch, dass sämtliche Schnurrbärte der Armee unerbittlich den Schermessern zum Opfer fallen müßten. Und es geschah also. Der einzige Schnurrbart im Oldenburgischen Corps ist ein hanseatischer, der des von Hamburg zum Brigade-Adjutanten dorthin berufenen Hauptmanns B.“

(Joseph Mendelssohn in „Eine Ecke Deutschlands“, erschienen 1845 in Oldenburg, Verlag Gerhard Stalling.)