Die feurigen Oldenburger [ 2 ]

Aber nicht, dass jetzt ein falscher Eindruck von den Oldenburgern entsteht; etwa, dass sie vom äußerst zurückhaltenden, reservierten, gar kühlen oder abweisenden Schlage wären. Solches mag vielleicht für die Bewohner anderer Städte – ja: aller? – rundherum gelten, insbesondere, aber nicht nur Hamburg, Bremen und Hannover, nicht aber für die Oldenburger!

Die Oldenburger nämlich, trotz aller widrigen Umstände, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen – sagen wir vereinfachend, Wetter, Boden, Sprache, Küche, Gesamtsituation – die Oldenburger also zeichnen sich durch ein Temperament aus, das man bezeichnen muss als feurig, hitzig, inbrünstig und ungestüm im Allgemeinen.

In Oldenburg wurde quasi die Leidenschaft erfunden, und das kam so. Oldenburg war lange Zeit eine Stadt aus Holz, und ihr Fachwerk war der Stolz der Bürger. Nirgends rühmte man sich mehr der Schönheit und Raffinesse der Fassaden.

Schließlich passierte das Undenkbare: Ein großer Brand zerstörte die Stadt und all ihre Holzbauten. Oldenburg war am Boden. Und erhob sich aus seiner Asche. Aus einer Stadt aus Holz wurde eine Stadt aus Stein. Die neuen Häuser bestanden fürderhin aus Ziegeln, die eigens für diesen Zweck in riesigen Öfen gebrannt wurden.

Was kaum einer vorher sah: Die Feuerhitze der Steine bewirkte eine wundersame Wandlung der Bewohner. Wo vorher vornehm gewispert wurde, wurde nun herzhaft gepoltert, wo zuvor spitzmündig der Friesentee gesückelt wurde, wurde nun geschmatzt und gesprotzt; wo vorher Hände geschüttelt wurden, wurde nun geküsst, umarmt, auf Schultern geklopft und generelle Freude am Menschsein gepflegt.

Strahlung, räsonierte man später, habe aus den Oldenburgern das gemacht, was sie heute seien.

Mehr Pfeffer! [ 3 ]

Das Erstaunlichste, was die Oldenburger Küche hervorgebracht hat, ist die Pfeffersuppe. Kenner streiten sich bis heute, ob sie Ausdruck des bereits erwähnten Oldenburger Temperaments ist, dekadente Insignie städtischen Reichtums, oder schlicht ein Kontrapunkt zum üblichen Kartoffel-Rüben-Einerlei.

Auffällig an der Pfeffersuppe ist ihre Zutatenarmut; ihre einzige und somit dezidierte Hauptzutat ist der Pfeffer.

Ob es sich nun um schwarze, grüne oder rote Körner handelt, bleibt dabei dem Geschmack der Oldenburger Hausfrau überlassen. Ebenso ganz nach ihrem Ermessen sind die Pfefferkörner am Ende entweder samtig-mehlig und verbreiten ihr Feuer mit einer trügerischen Sanftheit im Mund; oder sie sind bissfest-körnig und trainieren das Gebiss des Gourmets. Natürlich gibt es ebenfalls Dispute über die richtige Würzung des Gerichts. Zugezogene geben gerne etwas Suppengrün und Salz hinzu; die Alteingesessenen hingegen bestehen darauf, dass die Pfeffersuppe höchstens und nur im Notfalle mit etwas gemahlenem Pfeffer zu würzen sei, alles andere wäre dezidiert neumodisch, in gewisser Weise widerlich und in jedem Fall süddeutsch.

Gekocht wird die Pfeffersuppe vor allem zu besonderen Anlässen, und schon sowieso wenn Besuch aus Bremen oder Hamburg erwartet wird. Wenn den auswärtigen Besuchern – so noch nicht von Tiefenkrankheit beschädigt – bereits die Tränen in den Augen stehen, hauen selbst die Oldenburger Kinder weiter rein. Liter um Liter des Pfeffergebräus verschwindet in den kleinen Leibern.

Mehr Pfeffer!, wird in Oldenburg gerne gebrüllt, und auch im Ausland erkennen sich die Oldenburger an jenem heiteren Freudenruf.

Großer Häuptling Anton [ 4 ]

Nun wird es kaum verwundern zu hören, dass jene geographischen und geologischen Eigenheiten – extreme Tiefenlage, Strahlung der Backsteine, darüber hinaus aber auch Dämpfe aus dem Moor und merkwürdig schillernde Herbstnebel – dass all jene Eigenheiten also zu einem ausgeprägten Scharfsinn der Oldenburger führten. (Die Pfeffersuppe mag das ihrige beigesteuert haben.)

Von allen klugen Oberhäuptern war aber Anton der klügste, und so ist er als Großer Häuptling Anton in die Annalen der Stadtgeschichte eingegangen.

Schon als junger Mensch ahnte Anton, dass Leben außerhalb Oldenburgs möglich und also wahrscheinlich sein musste; und um sein Wissen über die Welt und ihre Erscheinungen zu mehren, ließ er sich von seinen Handwerkern eine Kutsche anfertigen, mit der ihn seine geliebten Pferde in die entlegensten Königreiche und Grafschaften bringen konnten.

Über jene Kutsche wurde seinerzeit in Oldenburg viel Aufhebens gemacht. Angeblich fuhr sie so schnell, als ob hundert Pferde sie zögen; wie auf planen Bahnen gleite sie über das Land und führe den Großen Häuptling in einem Bruchteil der üblichen Reisezeit an sein Ziel.

Das ist schwarze Magie, brummten die Alten. Das ist die Zukunft, flüsterten die Jungen.

Unglück, zieh vorüber [ 5 ]

Dann aber wäre da noch die Sache mit dem Aberglauben.

Im Allgemeinen zeichnen sich Wirtschaft und Gesellschaft in Oldenburg durch allerhöchstes Gedeihen und Umtriebigkeit aus, die lediglich an den Sonn- und Feiertagen zum Erliegen kommen.

Anders verhält es sich hingegen an einem Freitag, den dreizehnten. Schon am Abend zuvor wird es still in den Oldenburger Gassen und Straßen, die Bürger ziehen sich zurück.

Das ist das Startsignal der sogenannten Spökenweiber. Aus dem Kellergewölbe des Oldenburger Rathauses wird sodann der Spökenschleier hervorgeholt – ein Tuch, etwa anderthalb mal so groß wie Oldenburg. In jahrelanger Schneiderinnenarbeit wurde es von den Spökenweibern zusammengenäht, und mit den Worten bestickt Unglück, zieh vorüber. 

Noch vor Mitternacht wird es sorgfältig über die Häuser, Kirchdächer und Türme Oldenburgs gezogen und an ein paar Scheunen und Zaunpfählen des Stadtrandes befestigt. Am Morgen des 13., wenn Oldenburg aufwacht, befindet es sich bereits sicher versteckt unser einem beige-grünen Tarntuch, das es mit seiner Umgebung verschmelzen lässt.

Wenn nun also das Unglück von Norden her sich auf den Weg über das Land macht, verpasst es Oldenburg, und vage nur prägt sich ihm die Aufforderung ein, vorüberzuziehen und mit umso größerem Furor auf die südlicher gelegenen Landesteile hinabzufahren.

Eine Hochburg des Karnevals [ 6 ]

Kaum jemandem ist geläufig, dass Oldenburg die tollste Hochburg des Karnevals ist.

Und das kam so:

Vor langer Zeit, bei einem der besonders heftigen Stürme im Vorfrühling, trug eine Orkanböe eine ganze Sanddüne – aus Dänemark, so mutmaße man – herüber und ließ die Sandmassen mitten auf den Platz vor dem Rathaus rieseln.

Sobald der Sand zum Liegen kam, klarte das Wetter auf, die Sonne schien – kurz, es war der schönste Montag, den man seit Langem erlebt hatte. Der Bürgermeister, ein handfester Sohn der Stadt, erklärte den Tag zum Feiertag und verpflichtete alle Bürger Oldenburgs zum ausgelassenen Burgenbau.

Männer, Frauen und Kinder stapften mit Wassereimern und Schaufeln auf der Düne herum und schichteten Lage um Lage. Es wurde getrunken, gesungen und gelacht, der Bürgermeister versank bis zum Bauch in einer der Lagen und lachte sich darüber halbtot.

Seither wird Jahr um Jahr zur Zeit, wenn in anderen Städten Karneval gefeiert wird, in Oldenburg eine Ladung Sand aus Dänemark bestellt, der Tradition wegen. Wer es schafft, den Bürgermeister als erstes bis zum Bauch im Sand zu vergraben, gewinnt.