Die Oldenlöcher [ 7 ]

Oldenburg ist ein gemeingefährlicher Ort, den man, wenn man an seinem Leben hängt, besser meiden sollte. Wenigstens bei Regen.

Nicht genug, dass Oldenburg sich auf der Nordhalbkugel befindet, und somit alle Jahreszeiten genau falsch herum statt finden; abgesehen davon wechselt das Wetter alle halbe Stunde und hält die Oldenburger zum Narren. Die meisten von ihnen trauen sich nur noch mit großen Koffern oder Seesäcken auf die Straße, in denen sie Kleidung für alle Eventualitäten mit sich führen. Mit der Zeit sind besonders praktisch veranlagte Gemüter dazu übergegangen, sich an strategisch günstigen Straßenkreuzungen und Plätzen kleine Erdhöhlen zu graben, in denen sie ihre Ausrüstung verstauen.

Die Praktik kam schnell in Mode, so dass der Grund und Boden von Oldenburg durchsetzt und gespickt ist mit Sommerhüten, Regenschirmen, Wintermänteln, Schneeschuhen und Badeanzügen. Mit der Zeit aber vergaßen oder verwechselten die Bürger ihre Erdhöhlen; sie suchten sie vergeblich oder gruben sich neue. Die Oldenburger mögen sich vielleicht durch einzigartige Intelligenz auszeichnen; Nebensächlichkeiten aber entziehen sich ihnen bisweilen.

Zieht eine der gefürchteten Regenfronten über das Land und entlädt seine Wassermassen auf die Stadt, so verwandelt sich der gesamte städtische Untergrund in ein instabiles, trügerisches Gelände. So mancher Fremde, gerade in der Stadt angekommen, fand sich in einem der Erdlöcher wieder, zusammen mit klammer Winter- und Sommerausrüstung.

Die erbosten Reisenden haben diesem Phänomen den treffenden Namen Oldenlöcher gegeben; und ein Schelm, wer behauptet, jener Begriff hätte sich mit der Zeit auch für die Oldenburger an sich durchgesetzt.

Tag-und-Nacht-Ungleiche [ 8 ]

Es ist noch nicht allzu lange her, da spielten das Moor und seine Gestalten den Oldenburgern einen bösen Streich.

Für gewöhnlich haben die Städter einen natürlichen Widerwillen gegen das Land, das sie umgibt. Unwägbar ist es, kaum besiedelt, und wer bei Nacht oder Nebel nicht rechtzeitig zurück in der Stadt ist, läuft Gefahr, sich auf den schmalen Moorpfaden zu verlaufen und zu versinken.

Noch dazu – so gehen die Geschichten, die in den Schenken Oldenburgs erzählt werden – wimmelt es in den Mooren, Sümpfen und Heiden von spukhaften Gestalten; Untoten, Gespenstern, Stimmen, die einen immer tiefer hinein locken, Lichter, die über dem Wasser tanzen und dem Wanderer vorgaukeln, er befände sich auf dem rechten Weg.

In der Stadt aber, so dachte man die längste Zeit, sei man vor dem Moor sicher. So dachte man auch an jenem anbrechenden Wintermorgen. Es wurde hell; genau jene diffuse Helligkeit, die ein Tag im Februar mit sich bringt. Die Nacht schien kurz gewesen zu sein; die Bürger blickten kaum auf die Uhr, zogen sich an und machten sich ans Tagewerk.

Bis die ersten Schreie durch die Straßen gellten. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei der Helligkeit überhaupt nicht um die Morgendämmerung, sondern um Hunderte von Irrlichtern, die sich aus dem Moor in die Stadt verirrt hatten. Manche von ihnen tanzten direkt auf dem Pflaster; andere in Schulterhöhe und wieder andere schienen von Dach zu Dach zu hüpfen.

Sie trieben so lange ihren Schabernack mit den verunsicherten Bürgern, bis es einem alten Mütterlein, das sein Auskommen mit dem Verkauf von Rübenmus bestritt, zu bunt wurde. Beherzt packte es seinen Besen und kehrte die Lichter vor das Stadttor. „Für sowas habe ich keine Zeit“, zeterte es noch, bevor es in seine Kammer verschwand.

Die große Wasserteilung [ 9 ]

Hohe Berge schön und gut. Sicher, man muss sich an Kälte, Hitze, Höhe, Wind, Lebensmittelmangel und Kargheit gewöhnen.

Aber immerhin, und das gilt selbst für die Anden, immerhin sind sie immerfort da, Tag und Nacht. Selbst wenn man scherzeshalber in der Nacht aufsteht, um rasch zu kontrollieren, selbst dann liegen die Berge im schönsten Sternenglanze da und haben sich um keinen Zentimeter bewegt.

Auf diese – Pardon – Klötze ist Verlass. Da bedarf es keiner schwierigen Berechnung oder Kalkulation. Ein Berg ist ein Berg. Das kann man sich einmal merken und nie wieder darüber nachdenken.

Nichts dergleichen lässt sich vom Meer behaupten, in dessen Nähe Oldenburg liegt: Eine quecksilbrige Fläche, grau und unbewegt – so scheint es zumindest.

In Wirklichkeit ist es mal da, mal wieder nicht, und nicht einmal die größten Gelehrten der Stadt können voraussagen, wann das Wasser wieder über den Meeresboden rollen wird.

Zurückzuführen, so ist es nachzulesen in jedem besseren Werk über die allgemeine Geschichte Norddeutschlands, ist dieses Phänomen auf einen Kontrakt aus dem Jahre 1691 zwischen dem englischen König und den Königen des Festlandes. Es gab einfach nicht genug Wasser für alle. Da half nur eines: teilen.

Die Pumpen und Schleusen, die die britischen Ingenieure im Meer versenkten, waren eine Meisterleistung. Sie funktionieren bis heute, auch wenn keiner genau weiß, wie und wo.

Die Fischernte [ 10 ]

Jetzt hat man bereits über die Abwesenheit von Hügeln und Bergen gesprochen. Das heißt allerdings nicht, dass es nicht so etwas wie eine Regenzeit in Oldenburg gäbe. Die Stadtführer, wenn sie die tiefenkranken Besucher von außerhalb an den Oldenlöchern vorbei und, bei Bedarf direkt gen Lappan dirigieren, sagen gerne, dass es selbstverständlich eine Regenzeit gebe, und die dauere regelmäßig von Januar bis Dezember.

Vor allem im Herbst tritt immer wieder ein Phänomen auf, das von den Bürgern gleichermaßen geliebt und gehasst wird, und das ist die sogenannte Fischernte. Was wie ein munteres Volksfest klingt, ist in Wirklichkeit eine Wetterfront, die so viel Regen mit sich bringt, dass man über mehrere Tage das Haus kaum verlassen kann.

Tatsächlich regnet es in jenen Perioden so viel und so dicht, dass sich die Fische des Meeres verwirren und schnurstracks durch den Regen hindurch in die Stadt hineinschwimmen.

Die gewieften Oldenburger öffnen dann gerne ihre Fenster und ernten mit bloßen Händen die dicksten Flundern, Makrelen und Heilbutte.

Braque Noire [ 11 ]

Lange Zeit vor der Wasserteilung kam es zu mehreren, verheerenden Sturmfluten. Brüllend und tosend kam das Meer gegen das Land angedonnert und fraß sich in seinen Leib hinein, nagte und kaute so lange, bis es sich ganze Häuser, Kirchen und Dörfer einverleibt hatte.

Eine dunkle Zeit. Viele Häuptlinge der Region waren dafür, das Meer ein für alle Mal abzuschaffen, es zu verneinen, auszuradieren, es rüberzuschicken nach den britischen Inseln – aber da niemand wusste, wie das zu bewerkstelligen sei, platzte dieser Plan.

Kurze Zeit nach den Sturmfluten färbte sich die Bucht pechschwarz. Das Meer hatte Teile der Moore mit sich genommen, das sich nun immer weiter ins Meerwasser entleerte und es in ein großes, schwarzes Brack verwandelte.

Keiner, der die Stürme und die Fluten überlebt hatte, mochte die Bucht noch sehen oder gar die Fische daraus essen. Doch was tun? Das schwarze Brack war da, daran ließ sich nicht rütteln. Die Wirtschaft des Landes lag darnieder – Fischerei, Landwirtschaft, alles war erschüttert worden. Noch dazu lähmte das Brack die Menschen, die sich in seiner Nähe beklemmt und bedroht fühlten.

Ein kleiner Schreibwarenhändler aus Oldenburg brachte den Wandel. Beim Glaser bestellte er ein paar tausend Fläschchen, füllte an der Bucht das pechschwarze Brackwasser ab, nannte es Braque Noire und verkaufte sein Produkt als Spezialtinte an die wohlhabende Bevölkerung des südlichen Inlandes. Ein florierender Wirtschaftszweig entstand, auf den die Stadt bis heute zurecht stolz ist.