Ein begehbares Evangelium [ 50 ]

Der Stahlzaun, die Schritte im Kies, das Donnern des Blechs, die Stille meines Ateliers. Dieser große, stille Raum, wie er da liegt. Ein schlafendes Tier. Mein Tier. Ein Raum wie gemacht für mich. Von mir. Die logische Verlängerung dessen, was ich war. Ich sehe mich um, die Becken, die Truhen, die Tische und Werkzeuge. Regale voller Chemikalien, Abzugshauben und halbfertige Präparate. Wie kann man so lange von etwas träumen und es dann einfach wegwerfen. Ich stehe und atme und ich höre nur meinen Atem, sonst nichts. Ich möchte alles noch einmal berühren, bevor ich gehe. Ich möchte mich wirklich verabschieden. Das hier ist zu groß, um grußlos zu gehen. Mein Finger fährt über die Arbeitsflächen, tippt über die Stocher, die Messer, die Klammern und Nähte. Meine Hand fühlt die Wände, ich öffne noch einmal die Schubladen, nicke den Augen, Nasen und Zungen zu. Frauchen hat mir einen riesigen Spielplatz gebaut, ein Labor, ein Haus.Ich öffne Lohmanns Minibar. Schütte mir ein ganzes Glas in die Hände, ein bunter Eintopf. Wie schön. So viele Möglichkeiten. So viel Macht und Zauber in Tablettenform. Man stelle sich vor, ein Mensch im Mittelalter oder irgendein Urvolk-Schamane wäre im Besitz dieser vielleicht fünfzig Pillen gewesen – er wäre der Herrscher der Welt gewesen oder als Teufel denunziert worden.

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Neunundneunzigkommaneun Prozent [ 51 ]

Als ich wieder zu mir komme, liege ich ausgeleert, verlassen und zertrümmert auf dem Boden eines der höheren Stockwerke meines Wohnblocks. Fühle mich wie ausgeschabt, klebrig, rieche nach fremdem Körper. Meine Bewegungen schmerzen und sind stark verlangsamt, meine Muskeln sind schlecht erzogene Haustiere, altersschwach und schwerhörig. Meine Nase ist geschwollen und hängt haltlos in der Mitte meines Gesichts, ich fühle eine Kruste aus Schweiß und Blut und Schleim bei jeder kleinsten mimischen Verrenkung. Mein Handy klingelt. Sehe darauf: Sechzehn verpasste Anrufe. Rieke und immer wieder Rieke. Was habe ich getan? Ein schweres Echo hallt von den leeren Wänden zu mir zurück, hämmert zwischen meinen Ohren. Ich möchte sie mir zuhalten und als meine Hände sie nach unzähligen Momenten endlich zu fassen bekommen, kann ich fühlen, dass einige Stücke davon fehlen, Frauchen muss mich gegessen haben, Teile von mir. Ich stelle mir ihr kleines Mäulchen kauend vor und muss vorsichtig lächeln. Nach einer Weile rufe ich Rieke zurück. Sie ist aufgelöst.

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Solange ich renne [ 52 ]

Die Nacht fällt zwischen den Wipfeln auf uns herab. Umgibt uns lichtlos und fremd. Unter meinen nackten Füßen: Waldboden. Stöcke, Nadeln, Dornen bohren sich hinein, so egal. Ich renne. Rieke hält mich fest umklammert, ich habe sie huckepack, ihre Arme schnüren mir die Kehle ab. Egal. So egal. Ich brauche keine Luft, ich spüre keinen Schmerz, ich will nur wegweg. Reißaus. Insekten sirren, Grillen zirpen, Frösche, unbekannte Vögel, aus der Ferne ruft ein Uhu, ich finde meinen Weg im Sprint, trotz Dunkelheit. Ich habe nicht ein Mal darüber nachgedacht, wie ich Onkel finden kann. Wo könnte er sein? Wo rennen wir hin? In einen unbekannten Wald hinein, immer tiefer. Ohne Ziel, ohne Plan. Nur weg, weg von allem was passiert ist. Frauchen und das Ende. Ich muss meine Schwester retten, in Sicherheit bringen. Unser Kind. Unser. Kind. Ich muss den See finden, dort wird Onkel uns abholen, denke ich. Komm schon, Loris, komm schon. Jetzt nicht schlapp machen, jetzt nicht verzweifeln, nicht den Kopf verlieren. Es schlägt so heftig. Schlägt so heftig. Ein Pendel, das immer wieder neu ausholt, eine Abrissglocke. Ich habe Angst, eine alleszerfressende, riesengroße Angst, aber so lange ich laufe, holt sie mich nicht ein, ich habe einen winzigen Vorsprung, renn, Loris, renn. Der See. Und die Hand ins Wasser. Der Arm eine Nabelschnur. So lange ich renne, kann uns nichts passieren.
So lange ich in Bewegung bin, sind wir in Sicherheit.
Wo ist die Ruhe? Wo ist das Glück, ich habe es doch längst erlebt. Und ich schließe die Augen, renne weiter, etwas muss uns retten. Wer sind wir jetzt?

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