Großer Häuptling Anton [ 4 ]

Nun wird es kaum verwundern zu hören, dass jene geographischen und geologischen Eigenheiten – extreme Tiefenlage, Strahlung der Backsteine, darüber hinaus aber auch Dämpfe aus dem Moor und merkwürdig schillernde Herbstnebel – dass all jene Eigenheiten also zu einem ausgeprägten Scharfsinn der Oldenburger führten. (Die Pfeffersuppe mag das ihrige beigesteuert haben.)

Von allen klugen Oberhäuptern war aber Anton der klügste, und so ist er als Großer Häuptling Anton in die Annalen der Stadtgeschichte eingegangen.

Schon als junger Mensch ahnte Anton, dass Leben außerhalb Oldenburgs möglich und also wahrscheinlich sein musste; und um sein Wissen über die Welt und ihre Erscheinungen zu mehren, ließ er sich von seinen Handwerkern eine Kutsche anfertigen, mit der ihn seine geliebten Pferde in die entlegensten Königreiche und Grafschaften bringen konnten.

Über jene Kutsche wurde seinerzeit in Oldenburg viel Aufhebens gemacht. Angeblich fuhr sie so schnell, als ob hundert Pferde sie zögen; wie auf planen Bahnen gleite sie über das Land und führe den Großen Häuptling in einem Bruchteil der üblichen Reisezeit an sein Ziel.

Das ist schwarze Magie, brummten die Alten. Das ist die Zukunft, flüsterten die Jungen.

Unglück, zieh vorüber [ 5 ]

Dann aber wäre da noch die Sache mit dem Aberglauben.

Im Allgemeinen zeichnen sich Wirtschaft und Gesellschaft in Oldenburg durch allerhöchstes Gedeihen und Umtriebigkeit aus, die lediglich an den Sonn- und Feiertagen zum Erliegen kommen.

Anders verhält es sich hingegen an einem Freitag, den dreizehnten. Schon am Abend zuvor wird es still in den Oldenburger Gassen und Straßen, die Bürger ziehen sich zurück.

Das ist das Startsignal der sogenannten Spökenweiber. Aus dem Kellergewölbe des Oldenburger Rathauses wird sodann der Spökenschleier hervorgeholt – ein Tuch, etwa anderthalb mal so groß wie Oldenburg. In jahrelanger Schneiderinnenarbeit wurde es von den Spökenweibern zusammengenäht, und mit den Worten bestickt Unglück, zieh vorüber. 

Noch vor Mitternacht wird es sorgfältig über die Häuser, Kirchdächer und Türme Oldenburgs gezogen und an ein paar Scheunen und Zaunpfählen des Stadtrandes befestigt. Am Morgen des 13., wenn Oldenburg aufwacht, befindet es sich bereits sicher versteckt unser einem beige-grünen Tarntuch, das es mit seiner Umgebung verschmelzen lässt.

Wenn nun also das Unglück von Norden her sich auf den Weg über das Land macht, verpasst es Oldenburg, und vage nur prägt sich ihm die Aufforderung ein, vorüberzuziehen und mit umso größerem Furor auf die südlicher gelegenen Landesteile hinabzufahren.

Eine Hochburg des Karnevals [ 6 ]

Kaum jemandem ist geläufig, dass Oldenburg die tollste Hochburg des Karnevals ist.

Und das kam so:

Vor langer Zeit, bei einem der besonders heftigen Stürme im Vorfrühling, trug eine Orkanböe eine ganze Sanddüne – aus Dänemark, so mutmaße man – herüber und ließ die Sandmassen mitten auf den Platz vor dem Rathaus rieseln.

Sobald der Sand zum Liegen kam, klarte das Wetter auf, die Sonne schien – kurz, es war der schönste Montag, den man seit Langem erlebt hatte. Der Bürgermeister, ein handfester Sohn der Stadt, erklärte den Tag zum Feiertag und verpflichtete alle Bürger Oldenburgs zum ausgelassenen Burgenbau.

Männer, Frauen und Kinder stapften mit Wassereimern und Schaufeln auf der Düne herum und schichteten Lage um Lage. Es wurde getrunken, gesungen und gelacht, der Bürgermeister versank bis zum Bauch in einer der Lagen und lachte sich darüber halbtot.

Seither wird Jahr um Jahr zur Zeit, wenn in anderen Städten Karneval gefeiert wird, in Oldenburg eine Ladung Sand aus Dänemark bestellt, der Tradition wegen. Wer es schafft, den Bürgermeister als erstes bis zum Bauch im Sand zu vergraben, gewinnt.

Die Oldenlöcher [ 7 ]

Oldenburg ist ein gemeingefährlicher Ort, den man, wenn man an seinem Leben hängt, besser meiden sollte. Wenigstens bei Regen.

Nicht genug, dass Oldenburg sich auf der Nordhalbkugel befindet, und somit alle Jahreszeiten genau falsch herum statt finden; abgesehen davon wechselt das Wetter alle halbe Stunde und hält die Oldenburger zum Narren. Die meisten von ihnen trauen sich nur noch mit großen Koffern oder Seesäcken auf die Straße, in denen sie Kleidung für alle Eventualitäten mit sich führen. Mit der Zeit sind besonders praktisch veranlagte Gemüter dazu übergegangen, sich an strategisch günstigen Straßenkreuzungen und Plätzen kleine Erdhöhlen zu graben, in denen sie ihre Ausrüstung verstauen.

Die Praktik kam schnell in Mode, so dass der Grund und Boden von Oldenburg durchsetzt und gespickt ist mit Sommerhüten, Regenschirmen, Wintermänteln, Schneeschuhen und Badeanzügen. Mit der Zeit aber vergaßen oder verwechselten die Bürger ihre Erdhöhlen; sie suchten sie vergeblich oder gruben sich neue. Die Oldenburger mögen sich vielleicht durch einzigartige Intelligenz auszeichnen; Nebensächlichkeiten aber entziehen sich ihnen bisweilen.

Zieht eine der gefürchteten Regenfronten über das Land und entlädt seine Wassermassen auf die Stadt, so verwandelt sich der gesamte städtische Untergrund in ein instabiles, trügerisches Gelände. So mancher Fremde, gerade in der Stadt angekommen, fand sich in einem der Erdlöcher wieder, zusammen mit klammer Winter- und Sommerausrüstung.

Die erbosten Reisenden haben diesem Phänomen den treffenden Namen Oldenlöcher gegeben; und ein Schelm, wer behauptet, jener Begriff hätte sich mit der Zeit auch für die Oldenburger an sich durchgesetzt.

Tag-und-Nacht-Ungleiche [ 8 ]

Es ist noch nicht allzu lange her, da spielten das Moor und seine Gestalten den Oldenburgern einen bösen Streich.

Für gewöhnlich haben die Städter einen natürlichen Widerwillen gegen das Land, das sie umgibt. Unwägbar ist es, kaum besiedelt, und wer bei Nacht oder Nebel nicht rechtzeitig zurück in der Stadt ist, läuft Gefahr, sich auf den schmalen Moorpfaden zu verlaufen und zu versinken.

Noch dazu – so gehen die Geschichten, die in den Schenken Oldenburgs erzählt werden – wimmelt es in den Mooren, Sümpfen und Heiden von spukhaften Gestalten; Untoten, Gespenstern, Stimmen, die einen immer tiefer hinein locken, Lichter, die über dem Wasser tanzen und dem Wanderer vorgaukeln, er befände sich auf dem rechten Weg.

In der Stadt aber, so dachte man die längste Zeit, sei man vor dem Moor sicher. So dachte man auch an jenem anbrechenden Wintermorgen. Es wurde hell; genau jene diffuse Helligkeit, die ein Tag im Februar mit sich bringt. Die Nacht schien kurz gewesen zu sein; die Bürger blickten kaum auf die Uhr, zogen sich an und machten sich ans Tagewerk.

Bis die ersten Schreie durch die Straßen gellten. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei der Helligkeit überhaupt nicht um die Morgendämmerung, sondern um Hunderte von Irrlichtern, die sich aus dem Moor in die Stadt verirrt hatten. Manche von ihnen tanzten direkt auf dem Pflaster; andere in Schulterhöhe und wieder andere schienen von Dach zu Dach zu hüpfen.

Sie trieben so lange ihren Schabernack mit den verunsicherten Bürgern, bis es einem alten Mütterlein, das sein Auskommen mit dem Verkauf von Rübenmus bestritt, zu bunt wurde. Beherzt packte es seinen Besen und kehrte die Lichter vor das Stadttor. „Für sowas habe ich keine Zeit“, zeterte es noch, bevor es in seine Kammer verschwand.