Die große Wasserteilung [ 9 ]

Hohe Berge schön und gut. Sicher, man muss sich an Kälte, Hitze, Höhe, Wind, Lebensmittelmangel und Kargheit gewöhnen.

Aber immerhin, und das gilt selbst für die Anden, immerhin sind sie immerfort da, Tag und Nacht. Selbst wenn man scherzeshalber in der Nacht aufsteht, um rasch zu kontrollieren, selbst dann liegen die Berge im schönsten Sternenglanze da und haben sich um keinen Zentimeter bewegt.

Auf diese – Pardon – Klötze ist Verlass. Da bedarf es keiner schwierigen Berechnung oder Kalkulation. Ein Berg ist ein Berg. Das kann man sich einmal merken und nie wieder darüber nachdenken.

Nichts dergleichen lässt sich vom Meer behaupten, in dessen Nähe Oldenburg liegt: Eine quecksilbrige Fläche, grau und unbewegt – so scheint es zumindest.

In Wirklichkeit ist es mal da, mal wieder nicht, und nicht einmal die größten Gelehrten der Stadt können voraussagen, wann das Wasser wieder über den Meeresboden rollen wird.

Zurückzuführen, so ist es nachzulesen in jedem besseren Werk über die allgemeine Geschichte Norddeutschlands, ist dieses Phänomen auf einen Kontrakt aus dem Jahre 1691 zwischen dem englischen König und den Königen des Festlandes. Es gab einfach nicht genug Wasser für alle. Da half nur eines: teilen.

Die Pumpen und Schleusen, die die britischen Ingenieure im Meer versenkten, waren eine Meisterleistung. Sie funktionieren bis heute, auch wenn keiner genau weiß, wie und wo.

Die Fischernte [ 10 ]

Jetzt hat man bereits über die Abwesenheit von Hügeln und Bergen gesprochen. Das heißt allerdings nicht, dass es nicht so etwas wie eine Regenzeit in Oldenburg gäbe. Die Stadtführer, wenn sie die tiefenkranken Besucher von außerhalb an den Oldenlöchern vorbei und, bei Bedarf direkt gen Lappan dirigieren, sagen gerne, dass es selbstverständlich eine Regenzeit gebe, und die dauere regelmäßig von Januar bis Dezember.

Vor allem im Herbst tritt immer wieder ein Phänomen auf, das von den Bürgern gleichermaßen geliebt und gehasst wird, und das ist die sogenannte Fischernte. Was wie ein munteres Volksfest klingt, ist in Wirklichkeit eine Wetterfront, die so viel Regen mit sich bringt, dass man über mehrere Tage das Haus kaum verlassen kann.

Tatsächlich regnet es in jenen Perioden so viel und so dicht, dass sich die Fische des Meeres verwirren und schnurstracks durch den Regen hindurch in die Stadt hineinschwimmen.

Die gewieften Oldenburger öffnen dann gerne ihre Fenster und ernten mit bloßen Händen die dicksten Flundern, Makrelen und Heilbutte.

Braque Noire [ 11 ]

Lange Zeit vor der Wasserteilung kam es zu mehreren, verheerenden Sturmfluten. Brüllend und tosend kam das Meer gegen das Land angedonnert und fraß sich in seinen Leib hinein, nagte und kaute so lange, bis es sich ganze Häuser, Kirchen und Dörfer einverleibt hatte.

Eine dunkle Zeit. Viele Häuptlinge der Region waren dafür, das Meer ein für alle Mal abzuschaffen, es zu verneinen, auszuradieren, es rüberzuschicken nach den britischen Inseln – aber da niemand wusste, wie das zu bewerkstelligen sei, platzte dieser Plan.

Kurze Zeit nach den Sturmfluten färbte sich die Bucht pechschwarz. Das Meer hatte Teile der Moore mit sich genommen, das sich nun immer weiter ins Meerwasser entleerte und es in ein großes, schwarzes Brack verwandelte.

Keiner, der die Stürme und die Fluten überlebt hatte, mochte die Bucht noch sehen oder gar die Fische daraus essen. Doch was tun? Das schwarze Brack war da, daran ließ sich nicht rütteln. Die Wirtschaft des Landes lag darnieder – Fischerei, Landwirtschaft, alles war erschüttert worden. Noch dazu lähmte das Brack die Menschen, die sich in seiner Nähe beklemmt und bedroht fühlten.

Ein kleiner Schreibwarenhändler aus Oldenburg brachte den Wandel. Beim Glaser bestellte er ein paar tausend Fläschchen, füllte an der Bucht das pechschwarze Brackwasser ab, nannte es Braque Noire und verkaufte sein Produkt als Spezialtinte an die wohlhabende Bevölkerung des südlichen Inlandes. Ein florierender Wirtschaftszweig entstand, auf den die Stadt bis heute zurecht stolz ist.

Damals wie heute [ 12 ]

Natürlich würde man gerne die Geschichte des ersten Oldenburger Stadtschreibers unter den Tisch kehren – aber wie das meiste, was man gerne unter den Tisch kehren würde, hat sich auch diese Geschichte verselbstständigt und im gesamten Umland die Runde gemacht.

Vor vielen Jahren war in den großen Städten der Region die Mode aufgekommen, sich einen Stadtschreiber zu halten. Meist waren dies verschreckte, bucklige Schreiberlein, die in einem Turmzimmer oder einer Kellerwohnung saßen und für einen Hungerlohn Tag und Nacht alles verzeichneten, was in der Stadt geschah.

Hannover hatte einen Stadtschreiber, Bremen hatte einen Stadtschreiber; und als man munkelte, Hamburg habe sogar drei Stadtschreiber, da war es dem großen Häuptling Anton genug und er beauftragte einen seiner Beamten damit, einen Stadtschreiber auch für Oldenburg zu finden.

Trotz Turmzimmerchen, trotz bestem Hungerlohn und jeder Menge Material, das verarbeitet werden wollte, fand sich wochen-, gar monatelang kein buckliges Schreiberlein, dass sich in Oldenburg niederlassen wollte.

Der große Häuptling Anton fasste sich ein Herz, setzte sich in seine Kutsche und fuhr nach Hamburg, von wo er wenige Tage später zusammen mit einem unförmigen Sack wieder zurückkam. Er ließ es sich nicht nehmen, den Sack höchstpersönlich hoch ins Turmzimmerchen zu schleppen. Oben angekommen schüttelte er ihn noch ein wenig, langte hinein und beförderte schließlich das prächtigste bucklige Schreiberlein zutage, das die Stadt jemals gesehen hatte.

Jetzt also Oldenburg, sagte der große Häuptling Anton noch, bevor er dem Männlein auf die Schulter klopfte, ihm eine Feder in die Hand drückte und das Turmzimmer verließ.

Das starke Geschlecht [ 13 ]

Aber einmal war es selbst in Oldenburg soweit: Es stand so schlecht um die Stadt, dass der große Häuptling Anton meinte, es sei alles verloren, der Untergang stehe unmittelbar bevor. Oldenburgs Ende, so schien völlig klar zu sein, war besiegelt.

Dabei war die Räuberschar, die sich am frühen Morgen durch ein nur nachlässig verschlossenes Stadttor geschlichen hatte, gar nicht einmal größer als die Gruppen, die man sonst schon aus der Ferne kommen sah und sich manchmal so sehr über sie moquierte, dass man sie versehentlich in die Stadt gelangen ließ – wo man sie dann, zur allgemeinen Belustigung, für ein paar Tage in die so typischen Oldenburger Erdlöcher steckte.

Größer war die Räuberschar also nicht. Aber sie war bis an die Zähne bewaffnet, ausstaffiert mit Tierfellen, die Gesichter bemalt mit etwas, das nach Blut aussah; den Kindern schauderte es, den Männern schauderte es, selbst der große Häuptling war ratlos.

Einzig die Frauen von Oldenburg nahmen sich ein Herz, stiegen – als wäre es vereinbart worden; als sei es unausgesprochene Pflicht aller Bürgerinnen – in die oberen Geschosse ihrer Häuser hinauf, öffneten die Fenster – und ließen ihr Haar herab.

Blondes, braunes und schwarzes Haar wogte durch die Straßen der Stadt, erfüllte jeden Winkel und brandete sogar gegen die Stadttore an. Die Banditen verfingen sich in den hüfthohen Haarsträhnen, stolperten, und wer von ihnen sich einmal verfing, für den gab es keine Rettung mehr.

Nach einigen Stunden blieb den Oldenburger Männern nichts weiter zu tun, als herzugehen und die Räuber aus den Haaren ihrer Frauen zu pflücken. Einer von ihnen, der Jüngste, soll von einer gewissen Dame aus gutem Hause unterschlagen worden sein – was später aufs vehementeste dementiert wurde, natürlich.