7. Auf nach Oldenburg:
Wie die Dinge alle heißen, die nicht wahr und doch so schön sind

Kurz vor Detmold kommt mir eine Eingebung. Das mag an dem Nusshörnchen liegen, das ich gerade gegessen habe, oder an dem Dextro Energy, das ich lutsche. Ich weiß, was es mit der Nummer auf dem Zettel in der Zigarrenkiste auf sich hat. Ich weiß es so plötzlich und sicher, als hätte mir die Erftenmoder vertrauensvoll ins Ohr geflüstert. Schnell krame ich meinen Ebook-Reader hervor, rufe Strackerjan auf und scrolle bis zu Position 387. Dort heißt es:

Die Dichter waren die ersten, welche sich des verfolgten Aberglaubens annahmen und von manchem behaupteten, daß [sic!] er doch wenigstens poetisch wäre und ein Recht auf Dasein habe. Das ganze schöne Reich der Märchenwelt ist ja ein Reich des Aberglaubens, und wer nur z.B. die schönen Haus- und Kindermärchen der Gebrüder Grimm lesen und sich an ihnen freuen will, muß [sic!] seine Portion Aberglauben haben. Das soll heißen, er muß [sic!] poetisch glauben an Hexen und Nixen, an das Gespräch der Tiere und Bäume, an verzauberte Schlösser und verwünschte Prinzessinnen, an Meilenstiefel und gefeiete Schwerter und wie die Dinge alle heißen, die nicht wahr und doch so schön sind.
(Strackerjan, Ludwig, Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg. Altmünster: Jazzybee Verlag Jürgen Beck 2012, Position 387.)

 
Vor Aufregung bekomme ich Schnappatmung, und die Frau auf dem Sitz neben mir rückt leicht von mir ab. Das ist es! Ich bin Dichterin, und ich glaube ganz unbedingt poetisch an das Gespräch der Tiere und Bäume, an die Dinge, die nicht wahr und doch so schön sind. Ich nippe an meinem Bahn-Bistro-Kaffee, der auch nicht ganz von dieser Welt ist, und schließe die Augen, um in mich zu gehen. Ich bin die Dichterin auf den Spuren des Unheimlichen, Detektivin des Unglaublichen, Verfolgerin der Nixen und Hexen. Ich bin das und schon bald werde ich –
Mit einem Ruck kommt der Zug zum Stillstand. Eine Weile stehen wir, und wie immer, wenn ich in einem größeren Transportmittel sitze, das sich nicht bewegt, obwohl es das plangemäß sollte, werde ich sehr unruhig. Dann verkündet eine blecherne Stimme, dass sich Personen im Gleis befänden und sich unsere Weiterfahrt noch verzögere. Personen im Gleis, Personen im Gleis. Wie immer, wenn von Personen im Gleis die Rede ist, schaudere ich ein wenig. Ich weiß nicht, wie Menschen, die keine Dichter sind und nicht an das Gespräch der Tiere und Bäume glauben, darüber denken, aber ich sehe bei Personen im Gleis immer sehr flache, bleiche Geschöpfe vor mir, durchaus menschenähnliche Wesen, die sich unter den Gleisen entlangwurmen, um schon nach kurzer Zeit wieder im steinigen Untergrund zu verschwinden. Ihr ganzes Leben, vermute ich, verbringen diese Personen im Gleis, werden aber nur selten von wachsamen Autofahrern oder vielleicht Eisenbahnfotografen entdeckt.
Als wir endlich weiterfahren, vermeide ich es, aus dem Fenster zu sehen, und denke lieber weiter über Nixen und Bäume nach. Es ist nicht neu, aber immer wieder überraschend: Die Welt ist voller Unheimlichkeiten.