25. Die Geschichte vom Schilfmann (2)

Im Nachhinein könne niemand genau sagen, wer die Geschichte erfunden, wer sie sich erdacht hatte. War es tatsächlich Michel, der zum ersten Mal vom Schilfmann erzählte, jener Gestalt, die ihn in kurz vor der großen Pause zwischen Wurzeln und Dezimalbrüchen heimgesucht hatte? Nein, im Grunde waren sich alle Kinder einig, dass sie schon immer vom Schilfmann gewusst hatten, sich schon immer Geschichten über den Schilfmann erzählt hatten. Und auch den Eltern der Kinder war es, als seien sie selbst in den Zeiten, da sie Kinder gewesen waren, von ihren eigenen Eltern vom Schilfmann gewarnt worden.

Geht nicht zum Flötenteich, sonst fasst euch der Schilfmann!
Aber es war Michel, Michel ohne Zweifel, der vorschlug, sich auf die Jagd nach dem Schilfmann zu machen. Denn wer den Schilfmann fand, der würde auch Tobias wiederfinden, da war er sich sicher.
„Die waren so ein Trupp, wie die Fünf Freunde, nur ohne Hund“, weiß der einäugige Fritz. „Zogen um den See, trieben sich im Schilf rum.“
„Und dann?“, fragt mein Bekannter gespannt.
Aber der einäugige Fritz zuckt nur mit den Achseln.
„Na, mehr wissen wir im Grunde auch nicht. Nur, dass der Junge, also der verschwundene, dass der nie wieder aufgetaucht ist.“
„Und der Schilfmann?“, frage ich atemlos. „Was ist mit dem? Haben die Jungen ihn gefunden? War es bloß ein ganz normaler Mann? Einer, der eben zufällig im Schilf lebte? Was tat er dort? Was hatte er mit den Hunden vor, und was mit dem Jungen?“
Nun aber zuckt auch Evie mit den Achseln. „Nee, mehr wissen wir da wirklich nicht drüber. Tut uns leid.“
Mein Bekannter und ich tauschen einen ratlosen Blick. Wir stellen Evie und dem einäugigen Fritz noch ein paar Fragen, die aber nirgendwo hinführen. Gleich wie geschickt wir unsere Fragen verpacken, über den Schilfmann wissen die beiden nun einmal nichts weiter.

Die Sonne steht schon tief, als mein Bekannter und ich noch eine letzte Runde um den Flötenteich drehen. Hin und wieder meine ich, eine Bewegung aus den Augenwinkeln und im Schilf gesehen zu haben, aber immer wenn wir stehen bleiben und uns das Schilf in aller Ruhe ansehen, gibt es da nichts zu entdecken, erst recht keinen Mann.
Irgendwann gehen wir zurück zum Auto.
„Morgen fahre ich zurück“, eröffne ich meinem Bekannten und bin über meine Worte fast so überrascht wie mein Bekannter. Aber im selben Moment, da ich sie gesprochen habe, weiß ich, dass es so und nicht anders sein kann: Morgen fahre ich zurück nach Berlin. Als hätte irgendwo irgendwer eine Tür geschlossen, als sei ein Datum, auf das ich die ganze Zeit gewartet habe, plötzlich gekommen, eine Art Frist erreicht, eine Vereinbarung abgeschlossen. Meine Zeit hier ist abgelaufen. Das weiß ich, das weiß das schreiend Ding, das weiß Herman Holmer, und die Erftenmoder weiß es, und mein Bekannter weiß es auch.
„Tut mir leid“, sagt mein Bekannter.
„Was?“, frage ich.
„Na, das wir überhaupt nichts gefunden haben. Dass es jetzt auch noch so endet, hier am Flötenteich, mit irgendwelchen Andeutungen, mit irgendetwas, was anfängt, aber überhaupt nirgendwo hinführt. Der Schilfmann …“ Er schüttelt den Kopf.
„Spinnst du?“, frage ich. Ich denke an die Erzählung vom Schilfmann, die eigentlich gar keine Erzählung ist, die fünf Freunde ohne Hund, über die ich kaum etwas weiß, die den Schilfmann gefunden haben oder nicht, ich denke an den verschwundenen Jungen, der wohl nie wieder aufgetaucht ist, und all die Oldenburger Hunde, die mir im Grunde ziemlich gleich sind, ich denke an all die Fragen und an die Antworten, die uns der einäugige Fritz nicht hat geben wollen. In meinem Kopf greife ich zum Stift, in meinem Kopf fange ich bereits an zu tippen. Es war der heißeste Tage des Jahres, tippe ich.
„Was meinst du?“, fragt mein Bekannter.
„Na, ich habe doch das, weswegen ich hier gekommen bin“, sage ich.
Mein Bekannter runzelt die Stirn.
„Eine Geschichte“, sage ich. „Ich habe eine Geschichte.“

Ich verabschiede mich von meinem Bekannten, ich verabschiede mich von dem Studenten und von Siggi und Bruno, ich spreche einen stummen Dank, den ich der Erftenmoder und Herman Holmer schicke. Am späten Nachmittag setze ich mich in den Zug und fahre nach Hause.
Meine Wohnung in Berlin ist fremd und still und so verschwiegen, als hätte sie ein Geheimnis. In der Küche setze ich mich an meinen Tisch, ich mache mir nichts zu essen und keinen Tee. Ich stellte den Computer an, öffne ein Dokument. Es ist weiß und geräumig und bereit für mich.
Ich fange an.