24. Die Geschichte vom Schilfmann (1)

Die Geschichte, die uns der einäugige Fritz erzählt, beginnt in den Siebzigern. Oder in den Achtzigern. Oder in den Neunzigern. Das weiß der einäugige Fritz nicht so genau, und auch Evie ist unsicher. Sie beginnt jedenfalls irgendwann, und sie beginnt mit den Hunden.
Es war ein Sommer, ein ganz besonders heißer Sommer, also sicher 25 Grad hier im Norden, und erst verschwand ein Hund und dann ein zweiter und dann ein dritter und so ging es immer weiter. Gut zehn Hunde müssen damals verschwunden sein, hier ganz in der Nähe vom Flötenteich. Nur kurz von der Leine gelassen und ab ins Grüne und weg waren sie.
„Ja, damals hing hier alles voller Plakate“, sagt Evie, die sich gut erinnert an diesen heißen Sommer vor zwanzig oder dreißig oder vierzig Jahren. Belohnung für Nero. Und Belohnung für Smutje. Und Belohnung für Rocko.
Aber keiner von den Hunden wurde je wiedergefunden. „Irgendwie dachten wir wohl alle, sie seien im See, wie auch immer sie da reingekommen und ertrunken sein sollten“, sagt Evie.
„Ja, und dann Ende August, da verschwand der Junge. Tobias. Zehn war der vielleicht.“
„Sieben“, sagt der einäugige Fritz.
„Nee, mindestens zehn, eher zwölf“, sagt Evie. „Das war so eine Gruppe von Jungen, fünf, glaube ich. Die machten immer alles zusammen. Im Sommer waren die jeden Tag hier draußen und gingen schwimmen. Tobias, das war der jüngste von denen. Der durfte überhaupt nur mit, weil er der Bruder von irgendwem anders war. Torbens Bruder.“
„Jens’ Bruder“, sagt der einäugige Fritz.
„Nee. Torbens Bruder“, sagt Evie.
„Die Fünf hatten sich jedenfalls in den Kopf gesetzt, dass sie ihn wiederfinden würden“, fährt Evie fort, die dicht an der ganzen Geschichte dran gewesen ist, so dicht, dass sie mir nun Dinge erzählt, die eigentlich überhaupt nur Torben oder Tobias oder Jens wissen können.
Einer der fünf, weiß Evie etwa, hatte nämlich eine Vermutung, was geschehen sei, also mit den Hunden und mit dem Jungen. Einer der fünf, sein Name war Michel, war während des Mathematikunterrichts heimgesucht worden, von einer Vision. Er hatte jemanden gesehen, jemanden, den er nie ganz genau und mit richtigen, tatsächlich, gemeinhin oft benutzten Worten hatte beschreiben können.
Eine Gestalt, eine Anwesenheit, ein Etwas, das sich herumtrieb, am Flötenteich, das lebte im Schilf.