Eine Million Stunden [ 4 ]

Kopfschmerz. Kopfschmerz. Kopfschmerz.

SMS bekommen: „Welcher Koffer?“
Wenn der Koffer tatsächlich nicht von ihr ist, von wem dann?
Schreibe: „Die Schlüssel haben gepasst. Nett von dir. Konnte das Geld gut gebrauchen.“
Nur um zu sehen, ob sie darauf anspringt.

Eine Totgeburt von Tag. Bewege mich außer zum Klo keinen Zentimeter. Wünschte, ich könnte das ganze leere Wochenende einfach wegschlafen. Träume von meiner Ausstellung. Lebenswerk. Kraftquelle. Gemälde aus Tierkörpern.

Drehe mich von einer Seite auf die andere. Überlege, dass ich mehr als hundertvierzehn Jahre aushalten müsste, wenn ich dem Universum eine Million Stunden Lebenszeit abtrotzen wollte: vierundzwanzig mal dreihundertfünfundsechzig mal hundertvierzehn sind gerade mal knapp eine Million. Wenn ich nicht abartiges Glück habe, hab ich nicht mal eine Million Stunden. Wirklich, keine Zeit zu verschwenden. Ein Wochenende wegschlafen? Fuck.
Genau genommen bin ich Fleischmüll und mehr nicht. Alles, was ich jemals denke und fühle, mache und tue ist endlos irrelevant in der Unendlichkeit. Um das zu verstehen, muss man sich nur vorstellen, ohne Gedächtnis zu sein. Oder in ein Demenzheim gehen.

SMS: „In mir drin, tief unter einer wachsenden Gummischicht, gibt es etwas, das dich vermisst. Nein. Etwas, das das vermisst, was du immer vorgegeben hast zu sein“ (nicht gesendet)

Quäle mich also doch noch einmal raus und vor die Tür. So wie ich mich fühle, schaffe ich nicht mal eine halbe Million Stunden. Da gibt es nichts zu verschwenden.
Fahre in den verlassenen Klotz aus Stahlbeton. Meinen Klotz. Sechzigerjahrebau, vierzehn Stockwerke, hunderte Wohnungen, die einfach leer stehen, Raum aufspannen für mich, leere, frisch grundierte Leinwände. Ich laufe durch die einzelnen Stockwerke, meine Schritte hallen in der Leere, wo es nötig ist, trete ich Türen ein. Im siebten Stock schleudere ich einen Aschenbecher durch ein geschlossenes Fenster. Das Klirren der Scheibe, durchsichtige Risse vor dem grauen Himmel, Wind drückt herein. Habe kurz Tränen in den Augen, seltsam schön. Dieses Haus bin ich, denke ich für einen Moment. Hier bin ich zu Hause, hier bin ich, wer ich bin. Ein verlassener Bau, vergessen, leer und voller vergangener Geschichten. Mein Atem gefriert am hochgeschlagenen Kragen, Hände in den Taschen, trabe ich durch das Treppenhaus. Höher und höher, durch die Flure und Zimmer, gesplitterte Spanholzträume, vergilbte Gardinen, aufgegebene Pennerlager. Alles ist richtig an diesem Ort, alles ist genau so, wie es sein soll. Ich möchte diesen Ort für immer konservieren und ausgestalten. Ich möchte, dass kein verdammter Investor je auf die Idee kommt, dieses mir vom Kosmos geschaffene Refugium, diese meine Bühne zu erwerben, abzureißen, neu zu nutzen. Ort für all die Bilder, die hinter meiner Stirn wachsen.
Jede Etage exakt gleich geschnitten. Immer und immer wieder. Dann doch individuell verwohnt, verfallen, verlebt. Ort unzähliger Geschichten, Tragödien und trauriger Existenzen. Dann die letzte Brandschutztür, die ich mit schmerzenden Händen und einer rostigen Eisenstange aufhebele, Elendsarbeit.
Stehe im Pfeifen des eiskalten Windes auf dem Dach, grauer Tag wie Waschbeton, Klirren in den Ohren. Als hätte mein Kopf seinen Schmerz in den Himmel verlängert. Hände in den Taschen, möchte Insekten zertreten, Genitalien plastinieren, meine Mutter wieder ausbuddeln und anspucken. Dass sie ihr Geheimnis nicht mit in ihr dunkles Grab nehmen konnte. Sich auf dem Sterbebett, keine fünf Zigaretten vor dem Tod, auszukotzen und all die lebenslangen Lügen mir in einem Schwall vor die Füße zu spucken.
Zünde eine Zigarette an, sie ist verbrannt, bevor ich den dritten Zug genommen habe, der Wind raucht mit.
Alles wäre so anders gewesen. Alles. Wie es gewesen ist – das ist das faszinierende – wäre es okay gewesen, nicht eben wie gemalt, aber gut: okay. Ich hätte es akzeptieren können. Unerträglich wird es jetzt, wo ich weiß, dass alles anders zu bewerten gewesen wäre. Nicht nur bin ich betrogen um die echten Geschichten, vor allem ist alles bis hier hin gelebte entwertet, wie eine alte Fahrkarte, gelochtes Leben. Als Spielball. Der kleine Junge, dem man endlose Lügen auftischt, um ihm dann, wenn er endlich laufen kann, die Knie zu zertrümmern? Hättet ihr mich wenigstens in dem Glauben gelassen, ich wüsste, wer ich bin. Ich hätte es ertragen können. Das was ich aus dem Müll meines Lebens gemacht habe, hat mir gestanden. Es hat gepasst. Ich hatte mich sortiert und einigermaßen verpanzert. Und jetzt soll ich alles neu denken. Warum. Nur weil du dein sterbendes Maul nicht halten konntest? Scheiß Klischee: auf dem Sterbebett noch kurz die Beichte abzulegen.

Okay. Langsam wird es gruselig. Wer beschickt mich? Was soll das?
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Ein dreigliedriger Holzwürfel mit Tiersegmenten. Oben Köpfe, unten Extremitäten, in der Mitte Torsi. Sind das Botschaften, die ich zu blöd bin zu verstehen?
Der Koffer steht auf dem Boden im Flur, das Maul weit aufgeklappt, wie ein Nilpferd, das mich auslacht mit seinem Riesenmaul. Werfe alles zusammen, Schlüssel, Holzdrehdings, knalle den Koffer zu. Dem Nilpferd das Maul gestopft. Ich wünschte irgendwer hätte wirklich einfach Geld geschickt. Viel Geld, so viel, dass ich nicht länger hin und her überlegen bräuchte. So viel, dass die Lage klar gewesen wäre: einfach Sachen packen und weg von hier. Weg. Weg. Weit weg. Aber so.
Was kommt als nächstes? Vielleicht ist irgendwann etwas dabei, das dem ganzen hier einen Sinn einhaucht. Irgendwas hat der Mensch, der mir all das hier schickt vor. Vielleicht kommt irgendwann ein abgeschnittenes Ohr, ein getragenes Höschen, ein blutiger Hammer, irgendsowas. Tatwaffe oder Trophäe. Dann wird es gut sein, wenn ich alles gesammelt habe. Vielleicht sollte ich die Gegenstände auch nicht weiter mit meinen Fingern berühren. Handschuhe kaufen. Vielleicht sollte ich die Umschläge aufbewahren, Fotos machen.

Kaufe mir ein halbes Hähnchen am Supermarktgrill. Trinke neun halbe Liter Bier während ich das halbe Hühnerskelett zusammensetze. Ein Witz, der stündlich besser wird. Ich sage: das könnte ein lohnendes Geschäft werden. So ein Renner unter Hipstern. Müsste man auf einen goldenen Sockel montieren und für hundertfünfzig Piepen in so kleinen hippen Geschäften in Kreuzkölln und auf St. Pauli verscheuern. Würde funktionieren.

SMS: „Du bist so witzig. Das Drehdings, habe gelacht. Warum schenkst du mir so viel Geld?“
Die restlichen Nudeln. Drei Kopfschmerztabletten. Iron Maiden. Dann Bett. Nach dem Einschlafen kommt doch noch eine Antwort: „Ich weiß nicht, wovon du redest. Aber lieber so, als drohend. Schlaf gut.“
Besoffen. Aus dem Traum gerissen. Wütend. Tippe ich: „Werde dich töten. Schlaf auch gut.“ Einfach so. Leider gesendet. Nicht so gemeint. Aber entschuldigen? Nein.