Freies Europa [ 22 ]

Als ich zweiundzwanzig war, habe ich innerhalb von ein paar Monaten so viel Geld verdient, dass ich mein Geschäft eröffnen konnte. Die Räume anmieten, meine Werkstatt einrichten. Ich hatte einen Führerschein und Europa war offen, die Grenzen wurden nur stichprobenartig kontrolliert. Ich machte ein paar Kurierfahrten, insgesamt vielleicht acht oder neun. Kutschierte in unauffälligen Autos auffällige Mengen illegaler Substanzen von Rotterdam nach Wien, von Frankfurt nach Paris, von Düsseldorf nach Madrid und so weiter. Schöne, lange, einsame Fahrten. Bin nicht erwischt worden und habe über zwanzig tausend Euro verdient. Es lebe Europa.
Seitdem unabhängig und frei. Ich kann machen, was und wann ich will. Die Werkstatt lief nicht sofort, natürlich nicht, aber es ging auch nie ums Überleben. Hatte schnell kleine Aufträge an Land gezogen, einen kleinen Shop betrieben, Kuriositäten-Kabinett. Lief nicht blendend, aber immer so, dass ich mich über Wasser halten konnte. Und ich hatte einen Plan, wusste, wohin ich wollte. Ich musste nur irgendwo den Fuß in die Tür bekommen. Eine Hand voll größerer Aufträge, ein paar Kunden mit Strahlkraft, Leute, die, hätten sie erstmal ein paar Tierskulpturen in den Eingangsbereichen ihrer Anwesen, Inspiration wären für andere. Adel, Wirtschaft, Promis. Josef Ackermann, Boris Becker, Mariah Carey. Pudel und Grizzleys. Warum sollte ich jetzt, wo alles läuft, diese Freiheit aufgeben? Das einzige, das hält, ausgerechnet?

Alles löst sich auf. Familie, Geschichte, meine Geschichte, Gefühle, die ich begriffen zu haben glaubte, sie lösen sich auf. Nur um wieder das zu werden, was sie einmal waren, Worte mit lexikalischer Bedeutung. Tassen mit kleinen Griffen, die man aus dem Schrank nehmen und auf den Tisch stellen kann, um darin heißes Wasser zu beherbergen und mehr nicht. Rieke hatte mir ein paar dieser Tassen beigebracht, sie mir erklärt, wortlos, sie mir auf die Brust gestellt und langsam in mich einsickern lassen. Tagelang, wochenlang, jahrelang, ihre kleine Hand auf meinem Bauch, ihr Puls in meinem Ohr, sie lag und lächelte, weinte, streichelte, brachte mir das Fühlen bei, als gäbe es so etwas wirklich. Jetzt, wo ein Gefühl wieder eine Tasse ist und meine Seele ein Küchenregal und nur meine Arbeit noch meine Arbeit ist, warum sollte ich mich ausgerechnet jetzt verkaufen. Mich, meine Arbeit.
Weil es juckt?
Nur weil es juckt.
Weil ein mädchenhaftes, gickerndes Wesen in sündhaft teuren sackartigen Wollgewändern vor mir durch ihre Parkanlage hüpft und vage Versprechungen von sich gibt. Seltsame Blicke in den Tag streicht. Geheimnisvoll tut. Mir Träume unterstellt. Nur weil sie damit Recht hat?
Vielleicht.
Ja.
Es wäre das einzige, was noch zu verlieren wäre.
Aber macht es das kostbarer?
Vielleicht, damit endlich etwas auf dem Spiel stünde.
Vielleicht, damit ich endlich ein Spiel spielte.
Spielen. Endlich Spielen.