Riekes zerkaute, grobe Finger tippeln unruhig auf der Tischplatte. Vor ihr steht ein dampfender Becher. Verheulte Augen, ungewaschenes Haar. Sie ist fett geworden. Frauchen dagegen: ein Bild aus Honig und Milch. Wie sie dasteht, duftend und frisch gepellt. Ihre nackten, glatten Beine schimmern edel, ihre Locken amüsieren sich elastisch über die Schwerkraft, ihre Augen blitzen wach und wissend, die kleinen Hände wirkungsvoll verborgen, die Spitzen ihrer winzigen Brüste unter der kostbaren Wolle, aufrecht wie hörige junge Hunde, die auf den Wurf des Stöckchens warten. Sie spielt mit den Zehen auf dem geheizten Steinfußboden
“Loris”, sagt sie, “setzen Sie sich. Wir müssen reden.”
Ich schmelze. Ich gehorche. In vollendeter Geräuschlosigkeit schenkt sie mir Tee in eine nurmehr eierbechergroße Schale ein. Nickt. Lächelt. Ich fühle ihre Körperwärme über mich huschen, wie einen Schatten, dann steht sie auf der anderen Seite des Tisches, mir gegenüber, hinter Rieke. Legt ihr die geheimnisvollen Hände unverborgen auf die Schultern.
“Woher-?”, stammele ich, sehe sie an, warte auf Antwort. Aber ich habe ja gar keine Frage gestellt, sie lässt mir die Zeit, weiter zu scheitern. “Was macht… sie hier?” Ich nicke abwertend Richtung Rieke, es ist so absurd, dass sie hier ist, kommt mir vollends unwirklich vor, wie ein Foto allerhöchstens.
“Ihre Schwester, Loris, befindet sich in einer komplizierten Situation”, sie nimmt die Hände wieder von Riekes Schultern, verschränkt sie locker hinter dem Rücken, macht zwei, drei, vier kleine professorale Schritte, spricht Richtung Boden. “Sie hat sich in ihrer Not an mich gewandt. Sie braucht Ihre Hilfe, Ihre Nähe. Aber Sie gehen ihr aus dem Weg-”
“Aber-”, unterbreche ich sie. Und augenblicklich tut etwas in mir weh. Ich spüre ein kurzes elektrisches Flackern im Brustbein so etwa. Frauchens Blick, offen und freundlich, macht dennoch deutlich, dass sie keine Unterbrechung duldet. Sie trifft etwas in meinem Inneren, als hätte sie auf ihrem Spaziergang hinter meiner Stirn neulich ein paar Elektroden an meinem Rippenfell angebracht, die sie nach Belieben ansteuern kann. Ich schweige, lausche, lerne. Wieder setzt ihre Stimme ein:
“Ihre Schwester hat ein Problem mit gewissen Substanzen.”
Ich nicke, ich weiß.
“Ihre Schwester ist darum besorgt.”
Das ist mir neu. Sie ist eigentlich nur besorgt, wenn der Stoff zur Neige geht. Rieke ist kein Junkie, nie gewesen, nicht absturzgefährdet, ein kontrollierter Nutzer, aber sie brauchte diese Fensterchen. So hat sie es mir erklärt. Sie brauche die Aussicht. Ich besorgte ihr, was sie brauchte, ich hielt sie im Arm, wenn sie lächelte und schwieg und in ihrem Inneren zum Flug ansetzte. Manchmal brauchte sie diese Flüge vier Mal die Woche, manchmal zwei Monate lang gar nicht. Immer war ich dabei. Sie hat es nie verborgen, sie hat mir alles erzählt. Von den Farben, den Gedanken, den kleinen Witzen, die sich ihr Gehirn in solchen Momenten selbst ausdachte. Und mir hatte sie gleichzeitig verboten, mitzufliegen. Das ist nichts für dich, Loris, sagte sie. Das macht dich kaputt.
Ich zucke die Schultern. “Das geht mich nichts mehr an”, sage ich. Und mit der Eleganz einer Tänzerin und der Geschwindigkeit einer Karateka dreht, beugt, biegt Frauchen sich und schlägt fest und knallend mit der flachen Hand auf die Tischmitte zwischen Rieke und mir. “Oh, doch!”, sagt sie entschieden in die Stille hinein. Sie wendet den Kopf und sieht Rieke an, deren Blick auf ihren Oberschenkeln ruht. Dann nickt Frauchen und Riekes Lippen führen einen nervösen Tanz auf, ehe sie hervorwürgt: “Loris, ich bin clean.”
Ich lache.
“Wo ist dann das Problem?”, frage ich. Aufrichtig. Schüttele den Kopf. Ungläubig. Keine Antwort. Spöttisch: “Seit wann? Dienstag?”
“Vier Monate.” Vielleicht sieht sie deshalb so fertig aus? Weil ihr die Aussicht genommen wurde? Rieke, schöne, leuchtende Rieke. Zauberhafte, immer glückliche und seelige Rieke. Jetzt fett und matt und ungepflegt. Ihre Flüge waren Fenster, aber auch Quelle. Innerer Urlaub.
“Warum?”, frage ich. “Du siehst beschissen aus.”
“Danke.”
“Was machst du hier?”
Sie antwortet nicht. Sieht Frauchen an. Frauchen sieht mich an. Kopf schief gelegt, Augen zusammen gekniffen, mustert sie mich.
“Loris, Sie verstehen es wirklich nicht?”
Was ich verstehe: die Partie ist endgültig eröffnet. Also los. Frauchen meint es ernst. Ich hatte an ein klassisches Spielchen gedacht, Schach vielleicht, aber sie zieht ständig neue Figuren aus dem Hut, Figuren, die ich nie gesehen habe, die sich anders im Raum bewegen. Ich hantiere mit Bauer, Läufer und Turm, sie mit Panzer, Raumschiff, Photonenkanone.
“Es geht”, sagt Frauchen, “ums Leben. Um einen neuen Start. Es geht um Ihre Hilfe, Ihren Platz, Ihre Aufgaben. In dieser Welt und für die Menschen, die Ihnen vom Universum zugelost wurden.”
“Jetzt aber mal halblang.”
Frauchens buddhistisches Lächeln, das mir die Widerworte zieht. Die Sekunden fallen in die Weite dieser aus Naturstein und Edelholz geformten Küche. Tropf, tropf. Jedes Wider in mir geht aus. Erlischt. Ich blicke hilflos nach oben, als wollte ich dem Rauch nachsehen, den ich über mir aufsteigen sehe, dem Nachglimmen meines Dochts. Und ich wollte spielen?
“Sehen Sie die Zeichen, Loris”, da ist ihre Hand auf meiner. Sie bewegt sie wie kostbare Tiere. Schützt sie unter ihren edlen Ärmeln, lässt sie nur heraus, wenn sie benötigt werden. Klein und warm und wirksam. Ich möchte diese Hände essen, küssen, lecken. Kann nichts anderes denken. Welche Zeichen, denke ich und Frauchen antwortet:
“Dass Sie hier sind. Sehen Sie, dass Sie gebraucht werden.” Pause. Wer sich auf Pausen versteht, dem gehört die Welt. Ihre Mundwinkel. Sagen mehr als ein Evangelium. Ich bohre meinen Blick hinein. Versuche mich in Hypnose: Nimm deine Hand nicht von meiner. Bittesehr.
Und sie nimmt ihre Hand von meiner. Sagt: “Wir beide brauchen Sie, Loris. Das eint uns. Rieke und mich. Und so auch Sie.”
Ich nicke. Gib mir deine Hand zurück.
Sie schüttelt den Kopf. Nein. Kein Schütteln. Ein winziges Nicken, nur seitwärts, ungläubig.
“Loris, haben Sie verstanden?”
Ja, denke ich, wir gehören jetzt zusammen. Wir sind ein Universum. Wir wollen uns. Ich will. Aufgaben. Von mir aus auch Rieke. Gib mir Aufgaben, gib mir Hände, gib mir Lippen. Gucken reicht fürs erste. Ja!
“Sag es ihm”, sagt Frauchen.
Rieke schluckt, sieht auf. Und wieder ab. Wrack, das sie ist. Welk und faul, spröde Lippen, Hände eines Bauern.
“Ich…”, stammelt das trockene Maul meiner Schwester. Exschwester. “Erwarte ein Kind.”