Kann das sein? Ist der Spinner aus Oldenburg mein Onkel?
Hat meine Mutter einen Bruder? Den ich nicht kenne? Den wir alle nie kennen gelernt haben. Überhaupt: Mutters Familie. Die wir, ich habe nie darüber nachgedacht, nie kennen gelernt haben.
Hieß es nicht, sie habe keine Familie? Einzelkind und früh verstorbene Eltern? War es nicht so? Seltsam. Ich erinnere mich nicht. Muss Rieke fragen. Fotos in meinem Kopf, Erinnerungen nur an endlos langweilige Nachmittage in verwaschenen Farben in der engen, viel zu warmen Mietwohnung der Eltern des – ja was? Des Vaters meiner vermeintlichen Schwester? Meines Stiefvaters? Des Tieres.
Dass ich nie gefragt habe, woher Mutter stammt? Möglich. Es war mir vermutlich egal. So wie es mir immer egal war, dass Rieke ein Nachkomme dieses Tieres war. Ich habe sie geliebt, wenn man in meinem Fall von Liebe sprechen kann (es gab eine Tasse namens Rieke, die stellte sie mir auf die Brust und sagte: Liebe. Ich fühlte dabei nur Rieke, es war die Rieke-Tasse, das Rieke-Gefühl). Ich vermutete keine Teile von ihm in ihr. Ich vermutete Teile von ihm in mir, kannte gar welche, hasste sie, versuchte, sie abzustreifen, auszurotten, aber seltsamerweise nicht in ihr. Rieke war immer so sehr Rieke, dass alles Tierische sich in ihr nicht ausbreiten konnte, weil es keinen Boden fand. In mir dagegen, wuchs nichts eigenes und das Tier drückte seine penetranten, schnellwurzelnden, wildtreibenden, ausrankenden Samen tief in mich hinein, besetzte mich. Ich war er und nur Rieke konnte mich heilen, glaubte ich.
Ich hielt mich für ihn, ich würde er werden, unausweichlich, wenn nicht Rieke und ihre Tassen mich davor bewahren würden. Meine kleine Schwester und sonst niemand konnte dafür sorgen, dass ich mit ihr, nach ihr kam, sie war der Beweis, dass man nicht nach dem Fleisch wächst, aus dem man gemacht ist. Mit Rieke könnte ich alles werden. Dachte ich.
