Es stresst Lohmann schon wieder. Weil alles ihn stresst. Lohmann ist chronisch unentspannt, er hat immer Angst, dass ihm jetzt etwas Schreckliches passieren wird.
“Was hast du vor?”
“Nichts Besonderes.”
“So viel hast du noch nie bestellt.”
“So viel hab ich noch nie gehabt, noch nie gebraucht, noch nie gekonnt.”
“Is alles in Ordnung bei dir?”
“Sehr. Alles ist viel klarer. Hab es endlich geblickt.”
“Schön. Wann? … Ich meine: Wann und wo treffen wir uns?”
“Sonntag. In meiner neuen Werkstatt. Bin umgezogen. Ich schick dir die Adresse.”
“Ok… äh… okay, ich bin jetzt da. Was jetzt?”
Lohmann ist so scheiße gestresst, dass er gar nichts schnallt. Er soll nur kurz in meinen Briefkasten gucken und mir sagen, ob ich Post habe, das ist alles. Er erwartet ein Sondereinsatzkommando, das ihn im Hausflur erschießt, weil er in der Zweiten mal ein Radiergummi geklaut hat.
“Lohmann, du Pfosten, jetzt stellst du dich auf die Zehenspitzen und guckst in meinen Briefkasten.”
“Mhmm.”
“Mhmm, was?”
“Is was drin.”
“Viel?”
“Einer.”
“Einer nur?”
“Mhmm.”
“Kannst du den rausangeln?”
“Also, jetzt … also, reichts. Nee. Echt …”
“Lohmann!”
“Wenn mich jemand sieht?”
“Piss dich nicht ein und mach hinne!”
“Ohh!”, höre ich noch, aber dann scheint Lohmann zu gehorchen. Wie eigentlich immer. Ich höre das Briefkastenblech im halligen Hausflur bellen und stelle mir Lohmann vor, wie jetzt der Hausmeister reinkommt und Lohmann vor Schiss sofort die Hand im Briefkasten anschwillt und er sie nicht mehr rausbekommt und sich in vorauseilendem Gehorsam um Kopf und Kragen redet. Es ist so: Eigentlich will Lohmann all diese Dinge tun, es ist ja auch kein Zufall, dass ich zu ihm gehe, wenn ich bestimmte Sachen getan haben möchte. Lohmann sträubt sich, aber nur, damit man ihm Befehle gibt. Dann könnte er später alle Verantwortung von sich weisen. Er sei gezwungen worden. Und so kann er doch ein bisschen erleben, hat aber immer ein Sicherheitsnetz unter sich. Deshalb überhaupt kann ich ihm Befehle erteilen: weil er welche empfangen möchte. Es ist nicht so, dass ich groß was gegen ihn in der Hand hätte …
Ich wollte mir eigentlich nur vom Pharmazeut meines Vertrauens die neue Minibar einrichten lassen, deshalb hatte ich angerufen, aber als ich hörte, dass Lohmann bei mir um die Ecke im Café saß, hatte ich die Idee, dass er kurz in meinen Briefkasten gucken sollte.
“Ich hab ihn!”, ruft Lohmann stolz.
“Von wem?”
Es dauert ein paar Sekunden, dann: “Steht nichts drauf. Aber sieht aus wie von einem Kind. Deine Adresse und so …”
“Ach, Fuck, mach auf!”
“Hääh?”
“Du sollst den Brief aufmachen und mir vorlesen.”
“Ich kann ihn dir doch Sonntag auch einfach mitbringen.”
“Ich hab gesagt, du sollst ihn mir vorlesen. Ich will wissen, was drin steht.”
“Alter, das ist jetzt aber nicht so ne Pädo-Scheiße, in die du mich reinziehst hier, ne? Bei sowas, da bleibt immer was hängen und wenn der Ruf einmal ruiniert ist – das kann ich mir echt nicht leisten. In eine Pädo-Apotheke kommt keiner…”
“Lohmann, halt die Fresse und mach den Brief auf.”
“Ich geh mal raus erstmal, ja? Und such mir ne Bank, ne?”
Ich lege mich auf den Betonfußboden meines Ateliers, schaue an die Decke. Ich stelle den Lautsprecher an und lege das Handy neben mich. Ich höre es rascheln und rumpeln. Das Telefon krächzt, meine Halle scheppert, Lohmann räuspert sich blechern. Dann fängt er an, mir vorzulesen. Ich schließe die Augen:
Ich habe dir noch nicht von meinen Kühen erzählt.
Ich habe Kühe.
Ich habe sie getroffen, als ich eines Tages im Wald unterwegs war auf der Suche nach nichts. Ich lief nur, lief und lief und plötzlich standen da drei Kühe. Moni, Olga und Heide. Wilde Kühe, wenn es sowas gibt. Aber jedenfalls gehören sie niemandem. Nur sich selbst. Auch nicht mir. Wenn ich sage, ich habe Kühe, dann nur, weil ich auf sie aufpasse.
Lohmann stockt und verschnauft. Er lacht und sagt: “Häh? Is das so ne Behindertenpatenschaft oder so? Hast du ne Brieffreundschaft mit nem Mongo oder was geht ab?”
“Lies!”
Weißt du, Tiere überhaupt: Tiere haben mich gerettet! Ich war schon am Ende. Ich dachte, es geht nicht mehr weiter. Ich hatte alles verzockt und verkackt. Wenn mir etwas wichtig gewesen war, dann hatte ich es mit aller Kraft kaputt gemacht. So war mein ganzes Leben. Und dann waren es die Mäuse. Ich habe fast anderthalb Jahre unter einer Schnellstraßenbrücke am Rande von Oldenburg gelebt. Laut war es da und stinkig. Fürchterlich. Ich habe mich weggeschossen, Tag für Tag, und wenn man erstmal in so einem Strudel festhängt, geht es immer nur bergab. Man verzweifelt. Man hasst sich. Man lacht sich aus, bis man nicht mal mehr über sich selbst lachen kann. Und dann kommen die Schmerzen. Und du spürst, dass du nicht mehr kannst. Nicht mehr kannst ohne Sprit und mit Sprit auch nichts mehr kannst. Du stinkst und verlotterst und die Leute ekeln sich vor dir. Der Körper muckt, aber der Körper ist dann eh nur noch eine beschissene Hülle. Und damals haben mich die Mäuse gerettet, eine ganze Kolonie hat sich zu mir gesellt, und ich habe angefangen, mich um sie zu kümmern.
Lohmann bricht in Gelächter aus. “Alter, was für ein Scheiß!?”, brüllt er und lacht und wartet und ich sage nichts und Lohmann fragt: “Soll ich ernsthaft weiter lesen? Was ist das? Kannst du mir sagen, was das für ein Scheiß is? Is das n Witz? Soll das witzig sein? Oder Verarsche oder was? Es geht um nen Penner, der von Mäusen betreut wird und der auf Kühe steht? HÄH??!!”
“Lies einfach weiter!”
“Loris, was is denn das?”
“Privatangelegenheit.”
Sie haben mich abgelenkt, haben mit mir Kontakt aufgenommen, mir ihre Kinder anvertraut, zusammen haben wir Kunststücke geübt. (Lohmanns Lachen) Ich habe sie gefüttert, sie haben in meinen Sachen geschlafen. Lebendige Tiere, Loris!, so ein Geschenk. Es ist ein Zauber. Hast du Tiere? Vielleicht einen Hund oder eine Katze? Tiere machen glücklich! Ich hätte gerne einen Hund und vielleicht werde ich irgendwann auch einen haben. Im Moment habe ich drei Kühe, das ist genug für einen wie mich. Ich kann schlecht, wenn ich muss. (Impotent!”, ruft Lohmann und kriegt sich kaum wieder ein) Verstehst du, was ich meine? Wenn es zu viel wird, dann tauche ich ab, das ist ein Reflex. Es ist wie Atmen, ich kann nicht anders. Ich muss weg, wenn es zu viel wird. Aber Olga, Moni und Heide, die können auch ohne mich, die kommen gut allein zurecht. Also muss ich nicht. Und also kann ich. Es ist schön mit uns. Wir sind wie eine Familie, ein kleines bisschen jedenfalls. Wir streifen durch die Wälder, suchen nach saftigem Gras, ich liebe ihr Schnauben, ihr ruhiges malmendes Kauen, ihre sanften, braunen Augen. Ich lege gerne meine Nase auf ihr Fell und rieche den edlen Kuhgeruch. Dann kann ich alles vergessen. Kühe sind die ruhigsten und weisesten und entspanntesten Tiere, die ich kenne. Zumindest sind es diese Kühe, vielleicht, weil sie ganz für sich sind, in einem großen Wald.
„Alter, Sodomist, ich schwör! Bam! Rein ins große Kuhloch, hundertpro!“, schreit Lohmann mir ins Ohr.
„Halt dein Maul und lies!“
Wie wir manchmal früh morgens zusammen durch den Wald streifen. Wie weiße Fahnen tragen sie ihren Atem dann vor sich. Sprechblasen aus Wärme und sanften Gedanken. Glücklich und sorglos sind wir, laufen friedlich durch den schönen, leisen Wald, der taunass daliegt und langsam erwacht unter dem Gebrüll der tausend Vogelkehlchen. Ich glaube ja, dass Vögel sich für die Anknipser der Welt halten. So wie sie brüllen und schreien jeden Morgen. Sie schreien die Sonne, das Licht herbei. Sie glauben, wenn sie nicht aus voller Brust flöten würden, dann bliebe es dunkel. Den Kühen ist es egal. Ihnen ist alles egal. Wetter zum Beispiel. Sonne oder Regen? Ist ihnen gleich. Gleich schön.
Man kann so vieles lernen von der Seele einer Kuh. Ich wünschte, du kämst mich einmal besuchen, dann könnte ich dir meine Kühe vorstellen.
Olga hat noch ein bisschen Milch im Euter und manchmal darf ich mir ein wenig davon melken.
„Jetzt“, sagt Lohmann leise und kichert wie ein Mädchen.
Ein Kuhgeschenk. Weißt du, wie schön das ist? Wahrscheinlich nicht. In der Stadt hat man ja keine Kühe. Ich sage dir: Es ist wunderschön.
„Alter, Loris, ich hab noch nie so viel kranken Scheiß am Stück gelesen. Was für ein Spast, oder? Soll ich wegschmeißen?”
“Nee, mitbringen. Sonntag.”
“Okay, von mir aus. Ich komm um Mittag rum. Aber besuch den Typen bloß nicht.” Und dann lacht Lohmann laut und unsicher und ich lege auf. So habe ich Lohmann noch nie gehört. So ausgelassen, so laut lachend, wiehernd, hemmungslos und offen. Diesen ansonsten so ängstlichen, spitzmündigen, schreckhaften Loser. Das hat dieser Brief gemacht. Ob es seine Absicht war oder nicht, es ist ein kleiner Zauber. Und es macht mich wütend, merke ich, dass Lohmann meinen Onkel auslacht, den er gar nicht kennt. In diesem Brief steckt viel Wahrheit, mehr Wahrheit als Lohmann in seinem ganzen Leben je hervorbringen wird. Es steht ihm nicht zu, sich so über meinen Onkel zu erheben, dieser kleine Giftmischer. Verteidige ich gerade meinen Onkel (oder wer auch immer es nun sein mag)? Nur im Kopf, ja, aber so fängt es ja meistens an …