Lassen Sie sich gehen [ 33 ]

Drei Studenten und Frauchens Hausmeister Gruber helfen mir, mein Atelier (ja, so nenne ich es) einzurichten. Eine Firma hat in den letzten Tagen alle erforderlichen Anschlüsse gelegt, Gruber erledigt den Rest. Bohren, verkabeln, prüfen. Ein stiller Mann um die fünfzig, mit Blaumann, Schnurrbart und aschfarbener Haut. Seine ruhigen, sicheren Bewegungen erinnern mich an Frauchens Yoga-Übungen, die ich mir zuweilen ansehe.
Seit es so warm ist, machen Schwester und Frauchen ihre Turnübungen draußen. Strecken und Dehnen ihre Luxuskörper in engen Höschen. Frühmorgens, wenn der Tau noch über dem Park steht, ich habe es neulich gesehen, als ich gerade ins Bett gehen wollte. Sonst schlafe ich zu dieser Unzeit. Aber ich kam von der Vogeljagd, ein paar Tiere in der einen, das Luftgewehr in der anderen Hand überquerte ich die Wiese und guckte zufällig hinter der Bambushecke Richtung Spa-Bereich, da zog Rieke eine Tür der Glasfassade auf und glitt selbstbewusst in den Morgen. Ich stand wie ein Reh im Scheinwerferlicht, hinter Rieke schlüpfte Frauchen in den Morgen. Da standen sie, Matte unter den Arm geklemmt, eine Flasche Wasser in der Hand. Ich verschwand in meinem Atelier, lagerte eilig die Vögel. Mit Zigaretten, Rotwein und Klappstuhl setzte ich mich vor den Schuppen und sah dem Schauspiel zu. Wie Frauchen in Zeitlupe durch Raum und Zeit floss. Durch alle mir bekannten Dimensionen. In so absoluter Perfektion, es war die Definition von Konzentration, es war berauschend kontrolliert. Ich merkte, dass ich aufgestanden war, ohne es zu merken, als die runtergebrannte Kippe mir fast die Hand verbrannte. Ich flippte sie in den Busch, vor dem ich stand, prostete Frauchen mit der Weinflasche zu und trank. Meine Schwester als Statistin, und wenn sie Bikram höchstpersönlich wäre, Frauchen bewegte sich wie jemand, dem man nichts mehr beibringen konnte. Es war, als wehte sie in Superzeitlupe im Wind, irgendwie gelang es ihr, mit Konzentration die Gravitationskräfte anders ausreizen zu können als sich normal bewegende Menschen, ich hatte so etwas noch nie gesehen. War Rieke Publikum und gar nicht Lehrerin? Ich sah, wie Rieke irgendwas sagte, ihr Mund klappte auf und zu, vielleicht Anweisungen, Ideen, vielleicht der nächste Teil der Choreographie? Spornte Rieke sie an? Wie Frauchen hier stand und glühte, vor mir im Morgen, im Nebel, und die Terrasse zu einer Bühne machte. Sie war es, nicht ich und auch nicht Rieke. Sie war so vollkommen und genügsam, sie brauchte kein Publikum. Ich verstand nicht, was Riekes Rolle in diesem bemerkenswerten Schauspiel sein sollte.

Aktenschränke werden geliefert, Regale, Tische, Stühle, Lampen, eine Abzugshaube. Gefrier- und Kühlschränke, Werkzeugbänke, Becken, Wannen, Töpfe, Lupen. Ein Wärmeschrank und eine Mazerationsanlage. Ich stehe nur in der Mitte und delegiere. Zeige mit dem Finger in diese Ecke oder jene. Streiche über die Regale, sortiere Flaschen und Kanister, eine Wand voller Chemikalien: 2-Phenoxy-Ethanol, Natriumhydrogencarbonat, Formaldehyd. Enzyrim, Kochsalzlösung, Supralane, Mortanol, Natriumcarbonat. Papain. Wasserstoffperoxid. Ethylmethacrylat, Mehylacrylat, Alkohol, Aceton. Jaw-Juice, Dermocoll und weitere Spezialkleber. Schnellgießharz. Gips. Fette und Schmierstoffe. Retuschierwachs. Ich bin ein Speziallabor, ich mache Museen Konkurrenz: Mit meiner Knochenentfettungsanlage könnte ich Elefantenknochen präparieren.
Plastilin, Holzwolle, Wickelgarn, rostfreier Draht und Silikon. Nähnadeln, Nähfaden, Nägel. Spritzen, Kanülen, Skalpelle, Scheren, Pinzetten und diverse Modellierwerkzeuge. Sägen, Kopfsonden, Zangen und Löffel.
Habe mir außerdem einen Zuchtansatz für Dornspeckkäfer und ein Terrarium kommen lassen. Katzenfutter und Aquagel. Die kleinen Biester nagen kleine Skelette und Schädel einwandfrei sauber. Perfekte Entfleischer, ersparen einem, das ganze Skelett auseinandernehmen zu müssen.

Am Abend liege ich flach auf dem Estrich und glotze an die Decke. Mein Reich. Mein Raum. Ich liege und fühle ein Pumpen zwischen Magen und Herz, wie nach zwei Kannen Kaffee auf nüchternen Magen. Kurz schließe ich die Augen und gehe an Riekes Schrank, stelle mir eine Tasse auf die Brust, darauf steht: Glück. Dann fühle ich Wärme, schlage die Augen auf und sehe ein Händchen, nur Zentimeter über meiner Stirn. Ein wärmeglühendes kleines Mädchen-Händchen. Frauchen. Wie hat sie sich zu mir geschlichen? Sie sitzt oberhalb meines Schopfes, lächelt weise und hält ihre Rechte über mich, als könne sie etwas in mich senden oder aus mir saugen.
“Sehen Sie …”
“Was?”
“Da liegen Sie und träumen.”
“Ich habe nachgedacht.”
“Soso.”
Ich richte mich auf, setze mich ihr gegenüber. Ihre Hand verschwindet in der grauen Wolle ihres Pullovers, wie ein Schildkrötenköpfchen im Panzer.
“Gefällt es Ihnen.”
“Sehr. Und Ihnen?”
“Wenn Sie glücklich sind. Wenn Sie alles haben, was Sie brauchen …” Sie sieht sich um.
“Mehr als das. Ich habe … viel Spielzeug. Ich habe mich gehenlassen, als ich erstmal angefangen hatte …”
“Gut so!” Sie lächelt mich an, nickt: “Gut so. Lassen Sie sich gehen. Richten Sie sich ein. Sie sollen glücklich werden. Glücklich träumen. Unbeschwert. Frei von Sorge. Ich brauche Sie. Ich brauche ihre unbeschwerte Arbeit.”
Ich nicke. Nicke. Tranceartig.
“Mit einigen Sachen habe ich noch nie gearbeitet …”
“Gut! Gut. Bilden Sie sich fort. Wir sind noch lange nicht am Ende unseres Weges …”
“Ich ziehe hier trotzallem nicht ein!”
Sie schnaubt, lächelt, sieht durch mich hindurch, wendet den Blick ab. Draußen weint eine Katze, Wind drückt gegen die Tür.
“Sie geben mir das alles, diese Werkzeuge, die ein Vermögen kosten und ich weiß nicht mal, was Sie vorhaben. Was wollen Sie von mir?”
“Geben Sie mir Ihre Hände, bitte.” Etwas hält mich, kurz, dann rutsche ich einen halben Meter dichter an sie heran und strecke meine Arme aus, meine Hände hängen in der Luft wie Waren, die beim Handel über die Theke gereicht werden. Sie nimmt sie, dreht sie, sieht auf meine Handflächen. Ihre glühend heißen Kinderhände wärmen meine kalten, rauen Pranken. Dann senkt sie den Kopf, berührt mit ihren Lippen jede Fingerkuppe meiner rechten Hand. Keine Küsse, Lippenberührungen, wie eine Segnung, nichts Sexuelles.
Sie sieht nicht auf, als sie fertig ist. Hält inne, fixiert meine rechte Hand, als wolle sie sie beschwören. Irgendwann murmelt sie leise: “Faszinierend.”
“Was ist faszinierend?”
“Wie lange habe ich gewartet und mir wer weiß was ausgemalt. Dann plötzlich diese Hände. So sehen sie also aus …”
“Wovon reden Sie?”
“Werkzeuge.”
“Soll ich Ihnen zeigen, was Sie alles gekauft haben?”
Sie schüttelt den Kopf, ihre Pupillen haften an meiner Hand, wie sie sich auch bewegt. Ich spüre, wie das Blut in meine Hand schießt.
“Sehen nicht viel anders aus als andere Hände. Aber diese hat es gebraucht. Feine und feinste Werkzeuge. Filigran und kraftvoll, verbunden mit …”
“Was?”
“Ihrem Geist, dieser Fähigkeit – Sie wissen schon! Das ist vielleicht die Krone der Schöpfung.”
Ich muss lachen. “Jetzt übertreiben Sie vielleicht ein bisschen!”
“… die Krone dieses speziellen Auswuchses.”
“Um was geht es hier überhaupt?”
“Sie sind ein bescheidener Mann …” Ihr Blick springt in mein Gesicht, meine heiße, erigierte Hand fällt in meinen Schoß zurück.
Sie springt auf und gleitet Richtung Tür.
“Was sind Sie nur für ein sonderbarer Mann?”, schnurrt sie und zieht die Blechtür auf.
Sie wirft den Kopf in den Nacken, ihre Locken tanzen ein belustigtes Hüpfen. Zungenschnalzen.
Dann ist sie verschwunden. Und ich sitze noch hier. Nehme eine Zigarette. Das winzige Knistern der Glut. Herzschlag. Blut. Packe ihn aus. Rauche mit links, wichse mit rechts. Gleichzeitig. Starre an die Decke, Flimmern der Neonröhre. Komme bald, komme schnell, komme lange und gar nicht heftig, nur lange und warm, in sanften Wellen. Denke an Estrich, Blech und Aufsichtsrats Knochen. Die Tür schließt unter dem Druck des Windes mit einem Knallen. Ich rieche körperwarmes Eiweiß, und hoffe, dass sie irgendwo steht und mich beobachtet. Ich schäme mich nicht. Ich weiß: Hier darf ich alles. Ich weiß: Mit ihr geht alles.