Mechanik des Kosmos [ 38 ]

Habe mir extra den Wecker auf Yoga gestellt.
Sitze schon seit zwanzig Minuten hier auf meinem Klappstuhl und warte im angenehm kühlen Morgendunst, saufe Rotwein aus der Flasche, höre dem Gebrüll der Vögel zu und denke, wie still sie einmal in meinem Tempel stehen werden. Dann endlich geht das Fenster auf und Rieke und Frauchen betreten die Bühne. Sieht man bei Rieke schon einen Bauch? Ich kneife die Augen zusammen, schwer zu sagen. Und da breitet Frauchen auch schon die Arme aus und hebt ihr eines Bein, es geht los. Sie hebt ab. Ich möchte meine Augen weiter öffnen, ich möchte ganz aufmachen, sie hereinlassen, diese Leichtigkeit, diese Kraft, diese Kontrolle. Alles an Frauchen ist so ohne Ende mühelos, so elegant, sie steht da wie ein Ypsilon, engelsgleich. Rieke nickt und dann berühren sich über Frauchens Kopf, hinter ihrem Rücken, die Hände und ihr Fuß. Sie steht da, auf einem Bein, Schattenriss einer Lupe, Symbol der Weiblichkeit, gleich müsste Rieke mit der Peitsche knallen und eine große Katze würde durch Frauchens Kreis springen wie im Zirkus. Aber Frauchen gleitet einfach weiter, in einer nicht endenden, nicht stockenden, gleichmütig fließenden Bewegung, löst sich die Lupe auf, sie ist Honig, ist Wasser, ist eins mit der Zeit und dem All. Sie sinkt, die Arme zum Himmel ausgebreitet, zu Boden, ihre Beine gleiten nach vorne und hinten auseinander. In so vollendeter Langsamkeit landet sie im Spagat und gleitet direkt weiter, gleitet. Gleitet, schwimmt, schwebt, sie ist die Bewegung, die Konzentration, sie ist die Definition von Eleganz. Sie klappt das ausgestreckte Bein zusammen wie ein Armeemesser und dann gleitet der Unterschenkel einfach weiter, ungeachtet jeglicher Unmöglichkeit macht das Bein was gar nicht geht. Unwahrscheinlicherweise, als könne es sich noch einmal um dasselbe Kniegelenk wickeln, gleitet Frauchens Unterschenkel mühelos weiter und ihr Fuß ist gestreckt wie bei einer Ballerina. Alles an ihr ist Haltung, alles Perfektion und da hat ihr Fuß fast die zwölf erreicht, er zeigt zur Sonne, auch wenn das anatomisch nicht möglich ist, ich sehe es ja, bin Zeuge dieses Gebets aus Physis und Beweglichkeit, ich fühle es, ich möchte ein Teil davon sein. Und in diesem Moment, wechselt ihr Gleiten die Richtung, tickt der Zeiger wieder mit der Zeit, nimmt ihr Bein langsam wieder normale Formen an. Ihr Hirn muss anders arbeiten als andere Menschenhirne. Ich kenne niemanden, der sich so bewegen kann, vielleicht am ehesten vergleichbar noch mit gedrillten Artisten im chinesischen Staatszirkus. Und dennoch ist es anders, diese Bewegungen hier sind von so unendlicher Einvernehmlichkeit, sie atmen die Umgebung, sie sind das Hier und Jetzt, sie geschehen und sind und müssen sich nicht anstrengen, da ist kein Widerstand zu spüren. Alles formt sich nach diesen Bewegungen, als sei Frauchen das Herz und die Zeit sei das Blut und dann bin ich mir irgendwie nicht mehr ganz sicher, aber für mein Gefühl hatte Frauchen plötzlich nichts mehr an, jedenfalls gleitet sie vollkommen vollendet von einer Form in die nächste, nackt, wenn ich es richtig sehe, formt sie ihre eigene Zeit, knetet sie wie Kinderknete. Und ihre Schildkrötenhändchen massieren mich, und dann fühle ich es einsteigen, in mich einsteigen, ein Gefühl, wie wenn man Lagerfeuerhitze auf der Haut fühlt, wie sie in den Körper eindringt, so ähnlich, nur schneller, tiefer. Diese Bewegungen gehen in mich über, ich kann gleiten wie sie, ich fühle und verstehe die Zeit wie sie. Ich surfe auf ihrer Längenwelle, ich spreche ihre Sprache und wir schweben, tanzen, gleiten. So ein Morgen. Frauchens Terrasse, die Sonne und Rieke hört einfach nicht auf, vollkommen penetrant direkt vor meinem Gesicht zu schnippsen, vor meinem Gesicht, neben meinem Ohr, einmal, fünfmalzehnmalhundert, unendlich – sie hört nicht auf und da, plötzlich, merke ich, dass ich vollkommen nackt auf Frauchens Yogamatte sitze, Beine gespreizt, Rosette Richtung Fensterfront, Oberkörper vorgebeugt. Frauchen kichert leise, ich drehe den Kopf, klappe meine Pracht langsam, aber leider eher mittelmäßig elegant ein. Wie komme ich hier her? Was tue ich auf der Matte, der Terrasse, wo sind meine Sachen, warum bin ich nackt? Ich blicke Richtung Klappstuhl, Richtung Rotwein. Beides umgekippt und in zwanzig Meter Entfernung. Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, wie ich von dort hier her gelangt bin, wie ich meine Kleider verloren habe, was ich sonst noch angestellt habe … Ich und Yoga? Habe ich versucht, Yoga zu machen? Frauchen lehnt gegen das Fenster neben der Tür, sieht mir zu mit glänzendem Blick, den Mund hinter einem unverschämt flauschig aussehenden Riesenhandtuch verborgen, wie auch den Rest ihres kleinen Äffchenkörpers.
Frauchen schlüpft zurück ins Haus. Sofort erscheint Riekes Gesicht vor meinem:
„Wir sind immer noch ihre Angestellten“, faucht sie, „bist du high?“
Ich fühle mich wie ein Frosch. Nackt und deplatziert. Ich schüttele den Kopf, will ins Bett. „Ich will …“
„Sie ist unsere Arbeitgeberin! Du kannst hier nicht den Ichzeigdirmeinarschlochtanz tanzen?!“
Und da sehe ich ein Lachen in ihrem Mundwinkel zünden und ich weiß, jetzt heben wir ab und ich mache den ersten lauten Lacher und dann plätschern wir uns hoch, wie man beim Händeturmspiel, bei dem man immer die unterste Hand herauszieht und oben wieder oben auf den Turm draufklatscht und immer schneller wird, bis am Ende alle nur noch wild ihre Hände auf den Tisch klatschen, so werden wir lachen, wild und hemmungslos. Und Rieke steigt ein, wirft ihr Lachen auf meins, ich lache zurück, sie lacht und ich lache und wir lachen aufeinandermiteinander, laut und offenmaulig und Rieke nimmt mich in den Arm, sie wirft sich mir um den Hals und wir fallen hin und ich kann fühlen, wie mein Pimmel gegen ihren nackten Oberschenkel schlackert und das ist mir peinlich, Rieke ist meine Schwester, nichts, was sie nicht kennt, aber Berührungen … egal, denke ich, jetzt. Jetzt sind wir hier und wir lachen laut, wir lachen, dass ich Frauchen, unserem Chef, schön mein Arschloch gezeigt habe. Wir liegen auf dem Rücken und schnappen nach Luft, ab und zu hauen wir uns mit der Hand auf den Bauch, Gackern, Japsen, Stöhnen, greifen nach Luft, Nachschub für mehr Lachen. Kurz sind wir sechs und vier Jahre alt und es gibt auf der ganzen Welt keinen Grund jemals mit dem Lachen wieder aufzuhören. Als wir uns gerade beruhigt haben, alles in uns aber noch wallt und kribbelt, sich der ganze Leib noch anfühlt wie aus Brausepulver, spitzt Rieke den Mund und macht Knutschgeräusche, ich sehe sie an und sie sagt: „Das Schmatzen der Yogarosette“, und wir brechen wieder in Gelächter aus. Eine Minute lang oder hundert. Meine Bauchmuskulatur brennt, ein Schmerz aus Lachen.
„Rückkehr des Yoga-Lehrers“, sage ich, als ich wieder reden kann.
Danach gehen wir hinein, durch das Schlupfloch in diesem Horizont aus Glas, wir durchqueren mehrere Trainingsräume und einen Sauna-Bereich, ein Dampfbad, Duschen und so weiter, laufen auf eine Küche zu. Dort wartet ein Wellnessfrühstück mit Frauchen. Zu dritt, im Stehen, in ihrer Spa-Küche im Spa-Bereich. Wortlos. Wir blinzeln uns nur abwechselnd zu. Verschmitzte Blicke, grinsen, lächeln, zwinkern, es ist ein Spiel.
Wir essen Körnerbrei. Wir trinken Beerensmoothies. Wir fangen freie Radikale, stärken Abwehrkräfte und beugen Osteoporose vor. Bin noch immer ein wenig benommen vom Lachen, vielleicht auch vom frühen Rotwein.
„Man darf nicht mit sich aasen“, sagt Frauchen zwinkernd und weil so lange keiner was gesagt hat, ist es, als meißelte sie diese Worte vor uns in die Luft. „Man muss auf sich Acht geben, gut für sich sorgen, man muss seine Leistungsfähigkeit erhalten, nur dann wird man etwas ausrichten können, sein Ziel erreichen.“ Sie nickt in ihrer perfekt eleganten Körperbeherrschungsnummer und das unterstreicht jedes ihrer Worte nachträglich und malt unzählige Ausrufezeichen darum herum und sie hat so Recht mit allem, was sie sagt.

Eine Kuh kann man nicht alleine tragen.
Gruber ächzt und sicher erwartet er ein Trinkgeld von mir. Wir ziehen den monströsen Leib aus der Kühlkammer auf die Hebebühne. Gruber streckt den Rücken durch, ich ignoriere seine Blicke und dass er lange wartend neben mir steht. Ich bereite mein Sieb vor, wähle meine Messer und Instrumente. Dann knurrt Gruber irgendwas und humpelt raus. Ich rufe ihm ein “Danke!” hinterher.

“Sie macht mir Angst”, hatte Rieke gesagt.
Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Dass von dieser Frau eine tatsächliche Gefahr ausgehen könnte. Dass sie wahnsinnig wäre und uns alle in den Tod reißen könnte oder wenigstens in ihre wahnsinnige Welt. Und wenn schon. Vielleicht hatte ich es ja sogar gedacht und sofort im Junk-Ordner abgelegt und wieder vergessen. Mir doch egal. Was hätte ich denn zu verlieren. Eine abstruse Welt, der ich mich kaum zugehörig fühle, ein sogenanntes Ich, das ich nicht mochte, und Aussicht auf ein Leben, das vor allem aus Verfall und schwindenden Möglichkeiten besteht.
“Mir nicht”, hatte ich geantwortet, aber in dem Moment, in dem ich es sagte, konnte ich spüren, dass das nicht die Wahrheit war. Da war ein Zwicken, direkt unter dem Rippenbogen, ein beunruhigendes Zwicken, ein Stechen fast, das etwas anzukündigen schien. Ich fasste mir an die Brust und Rieke sah auf und fragte: “Alles gut?” Ich nickte.
Wir saßen auf ihrem Rasen unter einem ihrer vielen exotischen Bäume, die ihr Hausmeister in ihrem Park zu sammeln schien, wir tranken ihren Tee aus ihrem edlen Service. Rieke und ich. Hier und plötzlich und wortlos wiedervereint. Dieser Park, riesig und grün, wirkte dennoch wie eine organische Erweiterung des Wohnbereiches, absolut unchaotisch, nichts deutete auf eine Einmischung seitens der Natur hin. Gruber hatte alles im Griff, nirgendwo wuchs etwas, was er dort nicht wachsen haben wollte. Kein Blatt und kein Halm schien sich über die von Gruber erteilte Maximallänge hinaus zu trauen.
“Sie tickt nicht ganz richtig”, sagte Rieke und tippte sich an den Kopf. Ich musste lachen. Natürlich nicht.
“Aber das macht sie nicht gefährlich …”
Rieke strahlte mich an, glücklich, überglücklich. “Sieh mich an”, rief sie. “Wie gut es mir plötzlich geht!” Ich nickte, ich verstand nicht. “Wie einfach alles ist, wie mir plötzlich alles gelingt – mir!” Ich nickte und verstand es immer noch nicht. “Kann das sein?”, rief meine Schwester, sie stand auf und drehte eine überschwängliche Pirouette auf dem teppichartigen grünen Rasen. Dann beugte sie sich vor und sprach mir leise mitten ins Gesicht: “Das ist es, was mir Angst macht!”
“Verstehe ich nicht.”
“Loris, sieh dich mal um”, und Rieke fuhr den Arm aus und schwenkte ihn großzügig um sich. “Alles hier gelingt! Alles geht auf. Alle Wünsche werden wahr!”
“Ja.”
“Ja? Ich komme hier her und von einem Tag auf den anderen habe ich kein Suchtproblem mehr? Die Schmerzen sind verschwunden, ich kann schlafen?”
“Sei doch froh.”
“Wir sind wieder gut?”
“Ja.”
“Ich meine …”
“Achso. Ja. Träume werden wahr. Was hast du dagegen einzuwenden?”
“Das kann nicht gut gehen.”
“Rieke!”
“Wünsche sind nicht zum Erfülltwerden da.”
“Sondern?”
“Wenn es so einfach wäre. Wünsche sind keine Aufträge.”
“Aber … stell dir vor, du läufst durch den Wald und findest irgendwo eine Hecke voll von reifen, saftigen Himbeeren. Natürlich bleibst du stehen und greifst rein. Angenommen, wir haben hier grade ein merkwürdiges Phänomen in der uns unverständlichen Mechanik des Kosmos, erstaunlicherweise direkt und nur hier. Warum sollten wir nicht daran teilhaben?”
“Sei bloß froh, dass du eine kleine Schwester hast, die immer auf dich aufpasst”, sagte Rieke in einem erschreckend mitleidigem Ton und streichelte mir liebevoll quer durchs Gesicht, über meine linke Wange und die Nase, wie sie es immer machte, als würde sie mir Rotze vom Mund wischen. Rückkehr der erlaubten Berührungen. Alles ist plötzlich wieder da, stellte ich fest. Übergangslos, von jetzt auf gleich, keine Zwischenzeit. Alles war verboten, nichts ist mehr unerlaubt. Keine Unsicherheiten zwischen uns, kein Zögern, kein Zaudern. Als wäre nichts gewesen. Und das, da hatte sie Recht, war eigentlich unfassbar. Eben noch wollte ich ihren Kopf gegen Wände schlagen, jetzt streichelte sie mein Gesicht. Ein Wunder? Meistens ist der, der vergibt, ja nur irgendwann müde geworden, seine Vorwürfe weiter aufrecht zu erhalten. Dann verwischt mit der Zeit der Schmerz, verwässert die Wut, nutzen sich die Gedanken an Rache langsam ab. Meistens ist der Vergebende gar nicht weise oder anderer Meinung, sondern faul. Er hat keine Kraft mehr, seine Haltung aufrechtzuerhalten, sie auszustrahlen. Aber das hier war anders. Ich habe weder Leidenschaft eingebüßt, noch war ich ohne Kraft (im Gegenteil!), verziehen hatte ich ihr auch nicht. Ich führte nur keinen Kampf mehr, hatte auf seltsame Weise verstanden, dass es keinen Sinn machte, mich weiter zu wehren. Rieke ist ein Teil von mir. Auch wenn ich weiter falsch finde, dass sie nichts gesagt hat, all die Jahre, kann ich es nicht leugnen: Wir gehören zusammen. Meine Wut trifft vor allem mich selbst. Ich habe verstanden: zulassen, aufmachen, einlassen. Es sind plötzlich keine Widerstände mehr in mir vorhanden. Alles, womit ich mich ständig in der Welt verhakt habe, ist nicht mehr da. Mein Lebensgefühl ist plötzlich: Wollsocken auf Plastikfußboden.
„Sieh dir nur diesen Garten an! Meinst du EIN einzelner Gärtner wäre in der Lage…“, Rieke schüttelte den Kopf, vergaß die Worte und ihre Hand umrandete stattdessen elegant das Stück Welt, das vor ihren Augen lag.
Es stimmte, was sie sagte. Auf eine eigentümliche, aber eindeutig beglückende Weise gelang an diesem Ort alles. Aber woran das lag? An Frauchen? Wie und warum? Ich konnte es nicht sagen. Vielleicht strahlte ja auch irgendeine unbekannte unterirdische Kraft aus dem Erdinneren. Es gibt immer unendlich vieles, was man nicht weiß. Und das wird sich niemals ändern.
„Ich wünsche mir, dass ihr etwas zustößt. Dann wäre der ganze Spuk einfach vorbei“, sagte Rieke und schnaubte. Sie sah mich nicht an.
„Wenn deine Theorie stimmt – wäre das dann Mord?“
Ihre rechte Schulter zuckte minimal nach vorn. „Manchmal muss man Opfer bringen …“, mit einem kleinen Stöckchen malte sie ein Zeichen auf den Rasen, das ich nicht erkennen konnte, es löste sich im Moment des Zeichnens auf. Schrieb sie ein Wort? Wollte sie mir etwas mitteilen? Ich sah sie an und lächelte. Rieke sagte: „Wenn das wirklich Mord wäre, wäre es die einzig richtige Entscheidung.“

Die Käfer sind geschlüpft. Ein unterentwickeltes, unkoordiniertes Tanzen belebt das Terrarium. Aufsichtsrats Reste oder Kühe gar wären zu groß, selbst für Käferhundertschaften, aber ich habe genug zu erledigen für meine Dornspeckheinzelmännchen. Es gibt kein Verfahren, Kleintiere so perfekt und sauber zu entfleischen, ohne Schäden zu hinterlassen.
Ich habe vor ein paar Tagen insgesamt acht Kleintierfallen in Hubers Garten ausgebracht. Nehmen, was die Natur mir schenkt. Einmal wird eine Armee aus Eichhörnchen kopfüber von der Decke hängen und freundlich lächeln. Und ihre Skelette werden rattengleich zu hunderten aus den Ecken kriechen.

Ich hatte noch nie zuvor eine Kuh ausgeweidet. Es fällt viel Abfall an. Eine Menge Fleisch, eine Menge Knochen, so viel Magen, Darm, Blut. Und gäbe es hier nicht wie ganz selbstverständlich für alles bereits eine Lösung, müsste man sich fragen: wohin damit?