Geh nicht zu tief hinein [ 39 ]

In meinem Wohnblock: Ein ganzes Stockwerk gefliest. Rundherum: Boden, Wände, Decke. Kniehoch Wasser. Schummeriges Licht, nicht zu hell und nicht zu dunkel. Darin Eichhörnchen, rasiert und mit Dorschaugen. Auf Holzscheiten umhertreibende Marder mit bohrenden Blicken. An den Wänden kleben Aale und Eidechsen, lauernd, wie zum Sprung bereit. Man muss, um ins nächste Geschoss zu gelangen, durch dieses Wasser waten. Einen langen Flur entlang, durch dunkle Bereiche, und man wird hoffen, nicht gebissen zu werden, weil es nichts Schlimmeres gibt, nichts Gruseligeres, als Bisse von unten, in die nackten Beine, von Wesen, die man nicht sehen kann, die schnell und elegant durch ein fremdes Element gleiten, in dem man selbst nur zu Gast ist. Wesen, die aus unbekannter Tiefe kommen könnten. Mit Zähnen, Giften und Absichten, von denen mein Luft und Erde gewohntes Hirn nichts weiß.

Über der Treppe ins nächste Geschoss ein Schwarm Mauerspatzen, im Tanz gefroren, im Flug gestoppt, stehen sie in der Luft, genau im Moment des Entschlusses zur Flucht. Dieser seltsame Moment, wenn alle Individuen eines Schwarms scheinbar ohne Kommando und äußere Anzeichen im selben Augenblick dieselbe Entscheidung treffen und einhellig die Richtung ändern. Dieser Moment der totalen Umkehr, für immer hier archiviert.

Und an die Treppe gelangt, sähe man die ersten Beine von Menschen.

Lass uns gehen, das hatte Rieke ganz ernst gemeint und sehr viel umfangreicher als ich. Ich dachte: Zurück ins Haus, denn es war dunkel geworden und noch immer war die Wärme, war der Sommer nicht richtig angekommen, sobald die Sonne verschwand, wurde es kühl. Aber Rieke wollte nicht vor der Nacht flüchten, sie wollte nicht zurück ins Haus, sie wollte weg. Wollte verschwinden. Weg von Frauchen, weg aus der Stadt, alles aufgeben und hinter uns lassen und irgendwo eine Familie sein, glücklich, jung, gesund. Wir könnten uns einen Platz in der Welt aussuchen und uns dort ein Leben ganz nach unseren Vorstellungen zurechtzimmern. Das könnten wir tun, wir wüssten, es gelänge. „Wir sind nur noch stärker“, hatte Rieke gesagt und gelacht und dann hatte sie mich sehr ernst angesehen: „Ich habe Angst um dich, vor dir. Vor deinen Träumen. Ich glaube, diese Frau braucht dich, sie braucht deine Träume. Und deine Träume … die… ich kenn sie ja nicht, aber ich kenne dich … Sie sind stark, das weiß ich und sie sind … du weißt schon … dunkel? Geh nicht zu tief hinein, sie zu holen.“
Ich nickte, aber genau das wollte ich ja. Und ich wollte das hier nicht aufgeben, ganz und gar nicht und das habe ich ihr auch gesagt. Ich glaube, sie hat es verstanden. Dieses Projekt bin ich. Es ist meine ganz große Gelegenheit. Die Gelegenheit. Es geht um die wortwörtliche Verwirklichung meiner Träume, das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen …