Oh, kleine gute Stadt. Oh, glücklicher Ort, du heitere Welt, du goldenes Licht, du grünes, grünes Gras, du flaches Land, du Übersichtlichkeit, du Gartenzaun. Du Hecke, du Straße, du Biosupermarkt. Du Kinderwagen und freundlicher Nachbarschaftsgruß, du joggende Lebendigkeit. Du Nieselregen, du Fußballkneipe, du grüne Stadt. Du Kirchturm, du Reetdach, du kulturinteressiertes kleines Ding, du große Stadt mit dörflichem Charme, du Stadt gewordenes Dorf, du Fahrrad, du Gemüsekiste, du Grünkohl und Pinkel, du Gemüsesuppe und Kaffeekultur, du Friesentee und minimale Metropolregion, du niemals aus den Fugen geratene, du beschauliche, gemütliche, liebenswerte Stadt, du verwinkeltes Ding, du. Du Hort des Glücks, du freilaufende Kuh, du glückliches Huhn, du Biopastinake, du mit deinen vielen alten Höfen, machst mich ganz verlegen, wie du dich da unschuldig räkelst, oben im Norden, und dich uneitel im Nieselregen aufhältst. Du bist kein geiler Bock, du bist nicht hip, du bist kein Ungeheuer, hier geht man gern und ohne Risiko flanieren, hier kommen kaum Touristen oder nur solche, die sich zu benehmen wissen, nicht Touristen wie Berlin und Paris sie haben, Touristen, die so sind, wie das Wort schon klingt: gruselig und aggressiv, wie Terroristen, nur lauter und selbstbewusster. Nein, du bist anders, du bist Oldenburg, deine Touristen kommen mit dem Rad, deine Touristen haben Reiseführer, gehen in Museen und nehmen blutdrucksenkende Präparate. Du bist, was du bist, und das ist für dich völlig okay. Vielleicht nicht Rio und nicht Palma, aber das weißt du schon seit einer Ewigkeit und es geht dir gut damit, das spürt man doch an jeder Häuserecke, du bist Oldenburg. Und das gefällt mir am meisten. Ich liebe all die, die einfach okay mit sich sind, denn ich weiß, wie schwer das ist, okay mit sich zu sein, sich nicht jeden Tag neu und anders zu entwerfen und zu denken und zu sehnen. Du bist Oldenburg und ich liebe dich. Ich kann mich auf Anhieb in dir denken. Irgendwann komme ich und du nimmst mich auf und erzählst mir davon, wie es ist, Oldenburg zu sein. Flüsterst leise säuselnd in mein Ohr, ich verstehe gar nicht was du sagst, wahrscheinlich erzählst du mir Geschichten aus tausendundeinem Jahr Stadtgeschichte, deiner echten Stadtgeschichte, nicht der, die die Menschen sich über dich erzählen, die Tourismusbüros und Lokalhistoriker sich gemerkt, erfunden und mit mickriger Schreibe notiert haben, nein, deine Geschichte, deine Geschichten, von Menschen und Vögeln und Jahreszeiten. Von Regen und Bränden, von Zuzug, Pest und Parasiten, von Liebe, Tod und Trauer. Von Kutschen und Autobahnen, von Zweifeln und Glut und so unendlich vielen Gerüchen. Ich kann dich nicht verstehen, Oldenburg, und doch weiß ich, in dir wohnen so viele Geräusche, so viele Gerüche, ja!, so viele Lebewesen haben einen Platz in dir, haben dich belebt, benutzt, geformt, verbraucht, erbaut, entworfen, gemacht. Wir halten uns für die Träger der Geschichte, aber das ist natürlich Quatsch. Du bist das, was war und ist und bleibt, wenn wir schon längst verbuddelt und verweht sind. Oh, Oldenburg, du gnädiges Ding. Du langmütiges, gesundes, warmes, kleines Nest. Du ruhiger, ruhiger Ort, du Stadt, du Ort, du Platz, du Mutter. Und ich höre dein Wispern in meinem Ohr, spüre deine Lippen an meinem Hals, hinter meiner Schläfe, es kitzelt und macht mich verlegen und glücklich. Und Oldenburg, ich möchte mich setzen, zu dir, in dich und ich möchte alt sein, weiser und gefestigter als heute und ich möchte nicken und einen langen weißen Bart haben und krumme Schultern, also: nicken und begreifen, weil ich deinem halburbanen Rauschen und Treiben zuhöre und verstehe, endlich verstehe, was es bedeutet, Oldenburg zu sein.
Oldenburg. Ich bringe dir meine Schwester! Meine schwangere Schwester. Gib gut Acht auf sie. Sie ist ein Schatz, eine Seele, wie es nur wenige gibt. Sie soll gut aufgehoben sein, bitte. In dir. Ich kann nicht für sie sorgen, nicht jetzt, ich brauche noch ein bisschen Zeit. Das erkläre ich dir ein anderes Mal, aber für jetzt reicht es, wenn du weißt, dass ich nicht kann, dass ich aber kommen werde. Und es geht nur darum, dass meine Schwester einen Ort findet wie diesen, an dem sie frei ist von Sorge und Gefahr und Stress. Deshalb, Oldenburg, du. Sei die wahre Mutter, Oldenburg, eine Mutter, wie man sie sich wünscht, so gütig und zurückhaltend, eine Frau aus Nieselregen und schroffem Charme, weißt du? Oldenburg, eine Mutter, die einen gedeihen lässt, ohne einem alles durchgehen zu lassen, die einen stützt und wärmt und auch ein bisschen fordert, die einem nicht alles hinlegt und ausbreitet und hinterherräumt, eine Mutter, die einen jeden Tag aufs Neue gebiert und sich selbst dabei nicht wichtigmacht. Und sich vor allem nicht selbst vergisst. So eine Mutter. Wie du.
Und ich, ich selbst werde noch zu Ende spielen. Aber dann, ich verspreche es, komme ich zurück. Noch bevor es dunkel wird, werde ich zurück sein. Dann, wenn alle Kinder nach Hause müssen. Ich komme und setze mich an den gedeckten Abendbrottisch und wir werden eine glückliche Familie sein. Eine Oldenburg-Familie, du und Rieke und ich. Das kann ich fühlen. Es wird gelingen. Hier.
Ich habe Tränen in den Augen, Oldenburg. Nieselregentränen. Ach.
Und jetzt, Oldenburg, verrat mir noch, wo ich meinen Onkel finde.
Ich bin ja bereit. Ich werde es sein. Ich werde die Aufgabe annehmen, werde Vater sein, weil es keinen anderen Vater gibt. Ich werde ein guter Vater sein, ich werde ein Mann sein, meiner Schwester ein Mann sein, weil es keinen anderen Mann gibt. Also mache ich es. Und ich mache es gerne. Weil ich Vater sein will und Bruder und Mann. Weil ich das kann, weil es mir gut tun wird, weil ich gut tun werde. Ja, ich wünsche es mir. Ich wünsche mir, Vater zu werden. Oldenburg! Das ist neu! Nie- niemals hätte ich es denken können, aber jetzt schlägt im Bauch meiner Schwester ein Herz, groß wie eine Erbse im Mai und ich bin ein anderer. Oldenburg. Ich bin ein anderer. Ich kann mich neu denken, hier denken, in dir denken. Stell dir vor: eine kleine Familie. Vater, Mutter, Kind. Wie oft und wie viel und wie lange haben wir das gespielt, Rieke und ich, eine ganze Kindheit lang. Wie kann es sein, dass wir nie auf die Idee gekommen sind, es einfach zu machen, das Spiel zum Leben zu machen, es waren unsere glücklichsten Spiele, die schönsten Stunden, wenn wir alles vergaßen und eine eigene kleine Familie waren und uns ein Haus bauten in einem Baum. Dann brauchten wir nichts, nur ein paar Rosinen oder Beeren oder unreife Birnen. Wir hatten so viel Liebe füreinander und sogar für Riekes Puppen. Es ist ein Rätsel, wie wir das vergessen konnten. Und jetzt. Jetzt kommt es zurück. Will mit aller Kraft Wirklichkeit sein.
Nur für mich noch ein klitzekleines Bisschen zu früh. Nur ein wenig. Ich brauche doch nicht ewig. Ich kann nur jetzt nicht gehen, nicht jetzt, wo ich noch nicht weiß, was geschehen wird. Wo ich noch nicht verstehe, was passiert ist und passieren wird. Wo ich nicht weiß, ob ich ein Gesandter bin oder nur ein Medium. Wenn du verstehst, was ich meine, Oldenburg.
Rieke wartete bis auf weiteres in einem relativ luxuriösen Hotel mit Sauna und Schwimmbad, ein kleiner unverdächtiger Küstenort, in dem sie sich wohler fühlte. Hier sollte sie in Sicherheit sein.
Ich schalte das Handy aus. Keine Ortung. Verlasse die Stadt Richtung Wald. laufe, laufe und laufe. Oldenburg franst aus und ich laufe. Mechanisch, entschieden, selbstverständlich. Es wird grün und immer grüner, die Straßen werden Wege und die Wege Pfade und die Pfade verlieren sich schließlich in Wiesen und die Wiesen gehen über in Wälder und ich habe vergessen, wo ich eigentlich bin und wo ich hinwollte und es ist mir auch egal, ich bin ein anderer. Pläne, die ich mal hatte, sind Pläne eines anderen, ich laufe nur und leere mich selbst. Mit jedem Schritt gehe ich von mir selbst weg. Ich laufe und keiner kann mich daran hindern. Im Wald streife ich durch Gebüsch, klettere über umgestürzte Bäume, esse Pilze, die hoffentlich ungiftig sind, Borke, Rinden, Halme. Ich lauf und laufe und keiner kann mich daran hindern. Alles gehört in diesem Moment mir, meine Gedanken, mein Leben, meine Zeit, meine Entscheidung.
So viel unterschiedliches Grün, so viel Braun, so vielfältig, man müsste eine eigene Sprache dafür erfinden. So ein Wald ist wie eine Familie, wie eine Stadt, die eine Familie ist, wie Oldenburg, vielleicht. Ein funktionierender Kosmos, alles greift ineinander, baut aufeinander auf, keine Fremdkörper, keine Bausünden, ein gemütliches, liebevolles Miteinander, sogar Gäste sind erlaubt, ich bin erlaubt.
Und mitten im Wald der See. Groß und still und unberührt. Ein paar Vögel, Wasserläufer, Schilf und auf der Wasseroberfläche liegt der Himmel in kleine Wellen aufgefächert, ich tauche meinen heißen Kopf hinein und dann trinke ich aus meiner Hand und fühle meinen Körper.
Ich lege mich flach auf das Ufer, die linke Hand im See, mein Arm eine Nabelschnur, glotze in die Wipfel, fühle eine Ruhe in meinem Inneren wie ewig nicht. Ich möchte für immer hier liegen, flach, Hand im Wasser, Blick ins sanft wackelnde Grün vor dem Himmel. Und als ich wieder aufwache, als Mensch im Wald, da dämmert es. Ich höre ein Rascheln hinter den Bäumen, Vögel in den Wipfeln, die sich auf die Nacht vorbereiten. Und ich? Ich gehöre noch immer mir. Muss ich zurück? Muss ich überhaupt irgendwas? Ich könnte doch einfach durch den Wald streifen, nichts und niemandem gehorchen, keine Pflichten, nichts. Alles hinter mir lassen und vergessen, wer ich war. Warum sollte ich so tun, als hinge ich an mir? Warum nicht, mich völlig neu denken, neu erfinden? Und zwar hier, in dieser Umgebung. Ich wäre sicher, die Welt wäre sicher, meine Träume wären sicher.