Rieke bleibt, wo sie ist. In Sicherheit. Während ich den Absprung vorbereite. Ich gleite durch den Garten wie auf Zehenspitzen, schleiche durch das Halbdunkel, schließe geräuschlos die Tür auf und doch: Plötzlich tritt Frauchen aus dem Schatten:
„Sie waren in meinem Zimmer.“
„Dacht ichs mir.“
„Was?“
„Dass sie Kameras haben.“
„Ich habe Sie gerochen. Nicht gesehen.“
„Dass ich nicht lache.“
„Es ist so.“
Frauchens Augen sind zusammengekniffen, Schlitze zum Münzeinwurf. Habe ich sie wirklich knacken können? Wütend machen? Habe ich Sand in ihr Getriebe gestreut? Sie aus dem Gleichgewicht gebracht? Dieses kleine Wesen aus Balance und Ruhe und Überlegenheit. Ich muss lächeln.
„Wollen Sie sagen, dass ich rieche?“
Ich muss grinsen, filmreifer Dialog. Es geht peng-peng, ich denke gar nicht, mein Mund klappt auf und zu, es redet aus mir.
„Wer riecht nicht?“
„Sie.“
„Ich?“
„Ja.“
Ich beuge mich zu ihr und rieche. Und wenn man sich seine Privatsphäre als Kokon vorstellt, als unsichtbaren Kokon, der einen schützend umgibt, dann stecke ich meinen Kopf in diesem Moment in ihren Kokon hinein, mitten rein und schnuppere an ihrem Hals. Sie weicht nur ein, zwei Zentimeter zurück, hält sich dann. Lässt mich. Ich ziehe den Kopf wieder aus ihr heraus.
„Nein“, sage ich, „ich habe mich geirrt. Sie riechen doch“.
„Ach ja?“
„Ja.“
„Und wie?“
„Sehr gut.“
„Das freut mich.“
„Mh.“
„Ich hab es ja gesagt, niemand riecht nicht. Und Sie habe ich gerochen. In meinen Zimmern.“
„Sie haben Kameras.“
„Natürlich habe ich Kameras, aber ich habe mir die Aufzeichnungen nicht angesehen. Ich habe mir diese Aufzeichnungen noch nie angesehen, können Sie sich etwas Langweiligeres vorstellen? Ich habe Sie gerochen.“
„Sehen Sie sie sich an.“
„Warum?“
„Vielleicht gefällt Ihnen, was Sie sehen.“
„Und wenn nicht?“
Ich zucke die Schultern. Und wenn nicht?
„Entlassen Sie mich!“, ich grinse. Und Frauchen hebt den Arm, aus ihrem langen Wollzuhause schnellt die Schildkrötenhand hervor und steht als Stoppschild vor meinem Gesicht. Es prickelt hinter meiner Stirn und dann ist da plötzlich das Bild der Mauerspatzen, mein Schwarm, mein Bild, das sie gemalt, mir genommen (?), mir gegeben (?) hat. Und augenblicklich fühle ich den pochenden Schmerz, der heiß in den Rippenbogen zieht. Wie eine übergroße Hand, die sich langsam um meinen Herzmuskel schließt und ich weiß, um was es geht. Ein riesengroßes Gefühl. Eine einmalige Gelegenheit. Frauchen und ich, meant to be, so etwas fühlt man, selbst wenn man gefühlsbehindert ist wie ich. Auserwählt, zusammengesteckt, zwei einzelne Teile, endlich und nur in dieser Kombination zur Bestimmung gebracht. Wie ein Stück Holz, aus dem man ein Instrument schnitzt, mit dem man schließlich eine Arie spielt. Was wusste der Baum schon von Musik? Was wäre die Arie ohne Instrument? Frauchen und ich. Sie ist die Arie, ich bin das Holz, zusammen sind wir Musik. Und ich will endlich tanzen. Ich will ihr meinen Kopf zeigen, schenken, will Bilder, Träume, Räume, Tiere bauen, will das Ende überwinden, will bleiben, will ich bleiben, will werden, wachsen und sehe Mauerspatzen und Frauchen und weiß ich kann, könnte, wenn ich will und werde und …
„Ich kann böse werden, das wissen Sie noch nicht.“
„Oh, ich auch. Wissen Sie, das ist das Spannende an mir. Ich kann alles. Ich meine: Ich bin zu allem fähig. Ich bin nicht festgelegt auf eine Art von… Leben. Anders als meine Schwester zum Beispiel.“ Ich grinse. „Oder wollten Sie mir drohen?“
„Sie können sich im ganzen Haus frei bewegen. Aber meine Zimmer betreten Sie nicht.“
„Sie haben nichts zu verbergen. Da ist nichts, was ich nicht kenne.“
Ich fühle Farben in mir, so viel Grün, das Tanzen der Wipfel vor dem Himmelblau, ich denke an Erdbeeren und Kühe, lebendige Kühe. Ich denke an meine Seelenruhe, die Hand im See, das fremde, so bekannte Kleinebruderlächeln und dass ich Rieke in Sicherheit bringen muss. Und auch spüre ich in mir die Lust, dieses Spiel, dieses merkwürdige, spannende, unglaubliche Spiel noch ein bisschen weiter, vielleicht bis zum Ende zu spielen. Was alles in mir tanzt und wächst. Nach diesem langen Nichts, nach dieser Leere, diesem Irren. Als hätte ich ein Leben lang gespart, auf diesen Moment.
„Dass das klar ist“, zischt sie und ihre kleine warme Hand sticht in meinen Kokon und packt, wie eine Schlange ihr Opfer, meine Eier. Ich klappe vornüber, will mich wehren, aber ihr Griff wird nur fester. Der Schmerz verschluckt meine Stimme. Kein Schrei, nur Wimmern.
„Ich werde meine Kameras nicht benutzen. Nur mein feines Näschen. Dass das klar ist: Sie werden mir keinen Grund zur Klage liefern.“
Ich stöhne, der Boden wankt, ich sehe einen Riss in ihrer rot gemalten Unterlippe, der Mundwinkel ist entzündet, daran halte ich mich, an ihrer kleinen, dünn maskierten Wunde. Sie ist nicht unverwundbar, denke ich und stechende Wellen schwappen gegen die Innenseite meines Körpers. Ich wage es nicht, mich zu bewegen, denke nur: bitte, bitte, Frauchen, bitte dreh jetzt nicht die Hand. Und da lässt sie plötzlich los, lächelt ihr freundliches Frauchenyogalächeln.
Frauchen macht Kehrt auf ihren hochhackigen Schuhen, sie trägt sie nur für diesen Moment, denke ich, sie trägt sonst nie solche Schuhe. Sie hat sich ein Kostüm für diesen Auftritt angezogen: Mir bis fast zur Bewusstlosigkeit die Eier zu zerquetschen und dann in einer eleganten, zackigen Bewegung, einer Kür, die Schuhspitzen zu heben, sie auf den Hacken zur Seite zu drehen, dann geradeaus hinauszustechen aus der Situation, Schritte einer Managerin. Zackbummtacktacktack.
Back in the Game, denke ich und schmunzele. Blut schießt in die Schwellkörper, daran baumelt ein dumpfer, tauber Schmerz, der die Form blauer Kastanien hat.