der Wert der Ebene [ 48 ]

Der Arzt drückt ein durchsichtiges Gel aus einer Tube auf den geschwollenen Bauch meiner Schwester und verreibt ihn mit einem kleinen Gerät, das aussieht wie eine Fernbedienung. Auf dem Monitor ist irgendwas zu sehen, so richtig zu erkennen ist es nicht, auch wenn der Arzt so tut als ob. Er nickt und brummt und seine Hand drückt auf einer kleinen Tastatur herum.
„Sie haben da ein sehr vitales kleines Ding“, sagt der Arzt mit seinem komischen, spitzen Mund, „daher scheinen ihre Schmerzen zu kommen. Kein Grund zur Sorge! Auch wenn die Aktivität erstaunlich ist, besonders zu diesem Zeitpunkt. Es sieht aus, als würde ihr Kind, naja“, er lacht so ein Streberlachen, so ein Es-ist-nicht-witzig-aber-ich-zeige-dass-das-ein-Witz-war-Lachen, „recht aufwändige – wie soll ich sagen? – Yoga-Übungen machen …“

Rieke und ich sehen uns an. Der Streber grinst und rückt seine Streberbrille auf der Nase zurecht. Die weißen Birkenstocks tippeln zwischen den Rollen seines Gesundheitsbürodrehstuhls. Wir lachen nicht und er muss sein Grinsen einrollen wie alte Abdeckplane. Wahrscheinlich kennt er das, der Streber.
„Und Sie sind der Vater?“, fragt er mich. Ich nicke, ganz automatisch, stocke, nicke weiter. Auch egal. Kann dem Streber ja egal sein. „Mh“, macht er, „meinen Glückwunsch! Selten ein so aktives Kind gesehen nach fünfzehn Wochen. Machen Sie sich keine Sorgen, der Kleine verschafft sich nur ein bisschen Platz“, der Streber nickt und lächelt unbeholfen.
„Es sieht fast aus“, murmelt er und beugt sich vor, schiebt die kleine Brille auf seinem Nasenrücken hin und her, sucht mit seinem Kopf den richtigen Abstand zum Monitor, „als hätte ihr kleiner gleich zwei Herzen, haha.“ Sein Lachen fällt zu Boden wie Kleingeld.
Vatersein. Es gibt wenige Dinge, von denen ich weniger Ahnung habe als vom Vatersein. Und trotzdem bin ich plötzlich einer. So gut wie. FF, falscher Vater. Wir hauen ab hier. Und nehmen noch mal neu Anlauf, Rieke, ihr Kind und ich. Sobald wir hier fertig sind, bringe ich sie in ihre Wohnung und sie packt ihre Sachen. Ich fahre in mein Atelier und werde mich verabschieden, werde nicht zu Ende spielen. Wir haben entschieden und der schnelle Schlag dieses kleinen Herzens im Bauch meiner Schwester hat es festgenagelt: Wir werden gehen. Ich habe Rieke von Onkel, Kühen und Erdbeeren erzählt. Wir werden im Wald wohnen, Onkel wird uns zeigen, wie das geht, er wird irgendwo eine Höhle für uns haben und für die ersten Wochen wird das alles sein, was wir brauchen. Ich werde einen Unterschlupf für uns finden, eine kleine Wohnung, eine Hütte, ein Häuschen in der Nähe des Waldes. Wir werden nichts brauchen, fast nichts, und das Wenige können wir bezahlen von dem, was ich habe. Bloß schnell weg hier, Rieke hat Recht.
Es klopft an der Tür und ohne zu warten betritt eine Krankenschwester den Raum, sie stellt einen kleinen Korb mit irgendwelchen Utensilien ab, lächelt mich an und wartet.
„Wir wollen jetzt noch ein paar Untersuchungen vornehmen, wenn Sie meiner Assistentin folgen würden.“ Streber sieht mich an. Ich soll folgen? Meinetwegen. Ich drücke Riekes Hand und wie ein besorgter Familienvateridiot gebe ich ihr einen etwas ungelenken Kuss auf die Stirn, als wären wir tatsächlich ein Paar. Rieke lächelt verschwörerisch und nickt. Dann gehen wir.

Als die Schwester mir die Nadel in die Vene sticht, frage ich: „Warum werde ich untersucht?“
„Routine“, nuschelt die Schwester und reißt mir ganz nebenbei und selbstverständlich ein Haar vom Hinterkopf. Ich denke an Baumhauskonstruktionen. Ich denke an Lagerfeuer, Rauchgeruch und euterfrische Milch, an selbstgesammelte Beeren, Pilze, Kräuter. Ich denke, dass alles gut wird, dass wir endlich eine Richtung haben, dass wir wirklich glücklich werden könnten. Dass wir vielleicht doch richtig geträumt und gewünscht haben, Rieke und ich, mit vereinten Kräften. Dass wir vielleicht einfach alles richtig gemacht haben. Uns bis vor an den Abgrund gewagt haben, um hinab zu sehen, tief in die Schlucht, den Grund nicht mal sehen konnten, aber das reichte vielleicht, um zu ahnen, was dort unten auf uns warten könnte, um zu begreifen, wie wertvoll die Ebene ist, aus der wir kommen. Um zu wissen, was wir wirklich wollen. Wir haben uns verloren, um zu erfühlen, wie sehr wir uns wollen. Wir haben alles richtig gemacht, alles aufs Spiel gesetzt und richtig abgeräumt. Endlich haben wir ein Leben vor Augen.
Bin ich geheilt?

„Danke“, sagt die Schwester und drückt mir ein kleines weißes Tuch auf die Einstichstelle. „Wenn Sie draußen vor der Tür Platz nehmen würden, vielen Dank.“
Da sitze ich, warte und drücke den Zeigefinger in die Beuge meines Armes. In meinem Kopf: Gymnastik, Vorwärtsrolle, Handstand-Abrollen. Gleitende, fließende Bewegungen. Mein Leben, Denke, dass es Zeit ist zu gehen. Sachen packen, Abschied nehmen, Neuanfang. Tun können, heißt nicht tun müssen. So vieles, was ich kann und nicht tue. Spiel mit den Möglichkeiten, mhhh.
Mitte dreißig ein ganzes Leben neu beginnen, warum nicht? Entrümpeln, Renovieren. Neu einziehen. In die alten Erinnerungen, in all die Erfahrung, nur ab jetzt einfach alles besser machen. Neustart. Und die Episode mit Frauchen – wäre ein angemessener Schlusspunkt für Leben Nummer eins. Grande Finale, Trommelwirbel. Wald.)
Ich will mich in Sicherheit bringen. Neu ausdenken, neu aufstellen. Und wo ginge das besser, als in einem Wald. Mit Rieke und ihrem Kind. Der Rest kann entsorgt werden. Es sind falsche Träume, die eines anderen. Ich will kein Weltwunder bauen. Ich will mich nicht aufopfern für ein Kunstwerk.
Unter der Haut kann ich die Form meiner Muskeln erkennen, an einigen Stellen sind die Sehnen gut zu erkennen und wie sie am Muskel ansetzen. So sitze ich da: Zeigefinger in der Armbeuge, Nasenspitze auf der Innenseite meines Unterarms, als die Tür aufgeht und der Streber vor mir steht und debil grinst. Er hält Rieke die Tür auf und die Hand hin. Ich senke die Arme, hebe den Kopf, stehe auf. Der Streber schüttelt auch mir die Hand und nickt, Rieke sagt: „Loris, komm.“