Post aus Oldenburg. Die Sache wird immer schräger. Was soll der Scheiß. Meine Mutter ein Showstar?
Wenn es einen Prototypen für graue Mäuse gäbe, dann wäre das wohl meine Mutter gewesen. Ein stiller, blasser Mensch, humorbefreit bis in die Leber. Konnte nicht mal lachen, wenn man sie kitzelte. Habe ich meine Mutter lachen sehen? Ich meine nicht das Lächeln für Fotos oder fremde Blicke. Ich meine lachen, weil sie etwas komisch fand. Lachen, für sich. Aus sich heraus, ungeplant.
Tanzen? Ja, das sicher. Paartanz. Ich kann mich an Festivitäten (es braucht so ein sperriges Wort, um zu beschreiben, was gemeint ist) erinnern, auf denen meine Mutter sich durch den Raum schieben ließ und Schritte aufführte. Wenn meine Mutter gelacht hätte, dann so wie sie tanzte: verordnet, geordnet, auswendig gelernt, ohne Bezug zur Musik. Sie tanzte wie sie kochte, sparsam, nach Rezept, im Hinblick auf Sättigung. Sie kochte, wie sie aß, ohne Sinnlichkeit. Sie aß wie sie sprach, leise, hastig, wenig. Sie sprach, wie sie lebte, stimmlos, monoton, schüchtern. Sie lebte, wie sie starb. Eilig, schmerzhaft, sich entschuldigend für die Zumutungen, die sie anderen zu bereiten glaubte.
Mag sein, dass sie Träume hatte. Wahrscheinlich. So unrecht hat der Spinner nicht. Jeder hat Träume, selbst ich. Und was weiß ich von den geheimen Wünschen meiner Mutter. Wir sprachen selten mehr als das Nötigste. Vielleicht stimmt es. Vielleicht muss man es machen, wie der Spinner, um sie zu begreifen, von innen her zu begreifen: sie völlig vergessen. Aufgeben und verlieren. Von ein paar glitzernden Plastiksternchen ausgehen und blind nach den erstbesten Assoziationen greifen. Vielleicht. Vielleicht nur so.
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Der Riekekern [ 24 ]
Koche Haferflocken in Milch, Zucker und Zimt. Auf diese Weise begonnene Tage könnten gelingen, denke ich und rühre. Projekt: gelungenes Leben. Warum eigentlich nicht? Man muss gar nicht auf Selbstzerstörung laufen, nur weil man das Gefühl hat, die Welt hätte sich gegen einen verschworen. Ist nur mittelmäßig logisch, sich selbst zu schwächen, bevor man in den Kampf zieht. Eine halbe Schachtel Zigaretten und Rotwein zum Frühstück, das geht. Und kann witzig sein. Aber im besten Falle für drei oder vier Stunden. Porridge kann langweilig sein und nach überstandener Kindheit schmecken, aber man bekommt keinen ergiebigen, bröckelig gelben Husten davon und keine bohrenden Kopfschmerzen. Vier verpasste Anrufe. Vier Mal Rieke. Ich war einfach aufgestanden und gegangen. Hatte sie mit ihrer zertretenen, zerrissenen, vollgepissten Wohnung allein gelassen. Mein schlechtes Gewissen groß wie ein Mückenbein, eine kichernde Erinnerung an einen zügellosen Nachmittag. Hatte mir am Abend noch überlegt, wann ich das mal wiederholen würde. Vielleicht sollte es eine feste Einrichtung werden: einmal alle zwei Wochen meine Schwester besuchen. Ihr einen Besuch abstatten. Nein, nicht ihr, ihrer Wohnung. Sie zerleben. Rieke die Aufmerksamkeit geben, die ich ihr einst versprochen hatte. Ich würde mich immer um sie kümmern. Mich kümmern. Das wollte ich. Und das werde ich. Ihre Nachricht: “Loris, ich bin dir nicht böse. Ich verstehe deine Wut. Kannst du bitte mit mir sprechen. Ich brauche deine Hilfe. Dringend. Es ist wichtig.” Ich bin nicht einfach einer, so wie andere.
Hinter den Augen die Augen [ 25 ]
Nebliger Morgen. Streife durch die wild wuchernden Büsche und Sträucher, die seit Jahren keiner mehr stutzt und schneidet. Harte, kleine Äste, die nach mir peitschen, Dornen. Nasses, kniehohes Gras, feuchte Waden. Ziehe meine Schuhe aus, werfe sie Richtung Wohnblock. Längst nicht weit genug. Krähen. Dann der kalte Beton unter den Füßen, hart und rau. Drücke die Haustür auf. Das Treppenhaus müsste man freilegen, alles rauskloppen, bis auf die Stahlträger, entfleischen bis auf das Skelett. Aus Stahldraht Treppen fertigen, durchsichtig und wie schwebend. Ich laufe in den vierten Stock, schließe die Augen, sehe: Wald. Bäume, Äste, Rinde, Sträucher. Die Wände bewachsen mit rankenden, schlingenden Pflanzen, Efeu, Knöterich, auch Blumen. Weicher Boden, Unterholz, federnd, moosig. Bei jedem Schritt das Knacken kleiner Ästchen. Hinter Büschen und in Wipfeln vermutet man ganz automatisch Leben, Bewegung. Aber da ist nichts. Lebendige Leere. Dieser Wald ist nur eine Schicht Wald, zwei Meter fünfzig Deckenhöhe.
Dann, hinter einem Hügel: Hausschweine, ein kleines Rudel, Eber, Sau und Ferkel, Vorderteile naturalistisch, Hinterteile skelletiert, aalen sich im Blut, das ein pinkes Pony mit lackierten Hufen auf die Lichtung erbricht. Zwei Schwäne verstecken sich hinter einem Holunderstrauch, Energiesparlampen leuchten am Ende ihrer langen Hälse und man meint, die Decke sei schwarz gestrichen, als sei auf immer Nacht in diesem Wald. Bis man endlich genauer hinsieht und erkennt: es sind Fliegen, Kakerlaken, Mistkäfer, millionenfach. Ein kopfüber hängendes Meer aus Insekten und im dämmrigen Licht wird man misstrauisch, was man bisher erkannt zu haben glaubte: Sind die Bäume wirklich Bäume? Ja, wenigstens zum Teil. Einzelne Äste, erkennt man, wenn man nah genug heran geht und vielleicht ein Feuerzeug zu Hilfe nimmt, sind Kuhbeine, dünne Ästchen und Stöcke – sind es Vogelbeine? Manche Wipfel mögen aus Gräten bestehen und sicherlich nicht alle Blätter betreiben Photosynthese, einige sind Schmetterlinge, andere ledern oder aus Knochen gesägt. Mischwesen aus Tier und Pflanze. In Astlöchern wohnen Augen, wuchern Schwänze. Man könnte sich gruseln oder fürchten, manchmal ist der Geist dumm und klein und verstellt den Blick auf kunstvolle Schönheit. Thema dieser Landschaft ist die Schönheit. Ist Symbiose. Transplantation. Freundliche Übernahme. Grenzüberschreitung. Ich liege gern an diesem Ort und atme eine neue Form der Liebe. Hier fühle ich mich wohl und geborgen. Hier träume ich im Traum. Schließe hinter meinen Augen die Augen und denke mich weg in einen tieferen Raum, hier hole ich das Material für mehr.
Vorübergehend geschlossen [ 26 ]
Zerschneide einen Pappkarton. Schwarzer Edding. “Vorübergehend geschlossen”.
Im Eisschrank sechzehn Tiere, kleine Arbeiten, die ich nach Feierabend bearbeiten kann. Drei fällige, der Rest zur Not auch erst im Spätsommer zu erledigen. Minimale Aufträge. Erstaunlich wenig, was mich hält. Klebe das Schild von Innen an die Fensterscheibe. Räume die Tische auf, sortiere die Werkzeuge, Wische und kippe die Schalter an den Steckdosen. Es ist wie Kofferpacken. Der Beginn einer Reise. Wohin auch immer. Also los. Frauchens Träume malen.
An der Tankstelle kaufe ich Blumen. Was albern ist, fast schäme ich mich, als ich im Wagen sitze. Wollte ich Aufsichtsrats Frauchen tatsächlich Blumen von der Tanke mitbringen? Werfe sie an der Ampel aus dem Fenster auf die Verkehrsinsel. Ich bin nicht verliebt, nur unausgeschlafen und hungrig.
Ich halte und drücke die Klingel. Ihre Stimme, knisternd und verhallt: “Da sind Sie ja.” Das Summen, die Schritte auf dem Kies. Ein Büschel Locken im Türrahmen, ein nacktes Bein, ein kleiner Fuß spielt in der Luft, rot lackierte Nägel. Verschwindet dann, ich trete durch die angelehnte Tür. Höre: “Kommen Sie”, und mache Schritte Richtung Küche.
Ich muss lachen. Diese Spiele. Ich pirsche, lauernd, freudig. Spüre mein Blut. Hätte Lust, meinen Schwanz zu halten, locker zu kneifen, ihn ihr hinzuhalten. Einfach so. Nicht, weil ich sie geil finde oder glaube, dass sie mich geil findet. Einfach so, als Spiel. Als Witz. Als Überraschung. Sie lässt sich etwas einfallen, ich lasse mir etwas einfallen. Und tue es nicht. Tue es nicht. Mache meine Schritte, das ist alles. Biege um die Ecke mit der sieben Schritt langen Garderobe und weiß: dahinter liegt das Esszimmer mit der offenen Küche. Ein Haus aus Weite und Großzügigkeit. Da sitzt an der langen Tafel: Rieke.
Und von links piepst Frauchen: “Überraschung!”
WAS, denke ich. WOHER. Und WARUM.
Wir müssen reden [ 27 ]
Riekes zerkaute, grobe Finger tippeln unruhig auf der Tischplatte. Vor ihr steht ein dampfender Becher. Verheulte Augen, ungewaschenes Haar. Sie ist fett geworden. Frauchen dagegen: ein Bild aus Honig und Milch. Wie sie dasteht, duftend und frisch gepellt. Ihre nackten, glatten Beine schimmern edel, ihre Locken amüsieren sich elastisch über die Schwerkraft, ihre Augen blitzen wach und wissend, die kleinen Hände wirkungsvoll verborgen, die Spitzen ihrer winzigen Brüste unter der kostbaren Wolle, aufrecht wie hörige junge Hunde, die auf den Wurf des Stöckchens warten. Sie spielt mit den Zehen auf dem geheizten Steinfußboden
“Loris”, sagt sie, “setzen Sie sich. Wir müssen reden.”
Ich schmelze. Ich gehorche. In vollendeter Geräuschlosigkeit schenkt sie mir Tee in eine nurmehr eierbechergroße Schale ein. Nickt. Lächelt. Ich fühle ihre Körperwärme über mich huschen, wie einen Schatten, dann steht sie auf der anderen Seite des Tisches, mir gegenüber, hinter Rieke. Legt ihr die geheimnisvollen Hände unverborgen auf die Schultern.
“Woher-?”, stammele ich, sehe sie an, warte auf Antwort. Aber ich habe ja gar keine Frage gestellt, sie lässt mir die Zeit, weiter zu scheitern. “Was macht… sie hier?” Ich nicke abwertend Richtung Rieke, es ist so absurd, dass sie hier ist, kommt mir vollends unwirklich vor, wie ein Foto allerhöchstens.
“Ihre Schwester, Loris, befindet sich in einer komplizierten Situation”, sie nimmt die Hände wieder von Riekes Schultern, verschränkt sie locker hinter dem Rücken, macht zwei, drei, vier kleine professorale Schritte, spricht Richtung Boden. “Sie hat sich in ihrer Not an mich gewandt. Sie braucht Ihre Hilfe, Ihre Nähe. Aber Sie gehen ihr aus dem Weg-”
“Aber-”, unterbreche ich sie. Und augenblicklich tut etwas in mir weh. Ich spüre ein kurzes elektrisches Flackern im Brustbein so etwa. Frauchens Blick, offen und freundlich, macht dennoch deutlich, dass sie keine Unterbrechung duldet. Sie trifft etwas in meinem Inneren, als hätte sie auf ihrem Spaziergang hinter meiner Stirn neulich ein paar Elektroden an meinem Rippenfell angebracht, die sie nach Belieben ansteuern kann. Ich schweige, lausche, lerne. Wieder setzt ihre Stimme ein:
“Ihre Schwester hat ein Problem mit gewissen Substanzen.”
Ich nicke, ich weiß.
“Ihre Schwester ist darum besorgt.”
