Mutierst du jetzt? [ 43 ]

Einmal, mit acht, habe ich einen Jungen vergiftet.
Kleiner Spast aus der Straße, dumm wie frischer Schinken, zwei Jahre jünger als ich, hielt immer nach mir Ausschau, klebte mit seinem feisten Gesicht an der Küchenfensterscheibe und sobald ich vor die Tür kam, stand er bei mir, wollte mitmachen. Was auch immer. Und weil ich diesen hartnäckigen kleinen Mistsack nicht loswurde, habe ich ihn eben mitgenommen. Habe mir Schweinereien für ihn ausgedacht, die ganzen Sommerferien lang. Schickte ihn klauen, ließ ihn vor Haustüren kacken, ließ ihn einmal einen Briefkasten aufbrechen und die Beute in meinen Garten bringen. Solche Sachen. Lag abends im Bett und dachte mir neue Aufgaben für Dumpfback aus. Und am vorletzten Ferientag habe ich ihm eine Geschichte erzählt von einem Helden, der seine Kraft aus Pilzen bezieht und ich habe ihm gesagt, wenn er Superkräfte haben will, dann muss er wohl so viele Pilze fressen, wie nur möglich. Ich zeigte ihm die Pilze an den Bäumen, unter den Sträuchern und Bäumen am Waldrand und auf den Wiesen. Er verzog den Mund angewidert, aber er biss sich durch, stopfte sich voll. Gierig. Warum ich keine Pilze essen wolle. Weil ich nur sein Assistent sein würde. Batmans Robin sozusagen. Sherlocks Watson. Es gibt immer einen Helden und einen Typen daneben, der mit seiner Mickrigkeit den Helden erst so richtig groß macht. Wie im echten Leben. Mit vollen Händen stopfte er sich die Hüte in sein kleines, dummes Maul, kaute wenig, schluckte viel. Mit solcher Überzeugung, dass ich selbst bald anfing zu glauben, er könne zu einem Helden mutieren. Ich sah ihm in die Augen, gespannt, ob sie sich färbten, weiteten, verflüssigten, fühlte seine Hand, die Temperatur, genoss in mir drin die Macht. Da war es wieder: Leben und Tod. Ich brauchte nur ein paar Worte, konnte einen Menschen beenden. Unter all diesen Pilzen würde wohl wenigstens einer sein, der tödlich giftig war. „Spürst du schon die Veränderung?“, fragte ich ihn, „Mutierst du jetzt?“ Weiterlesen

Ich sehe mir ihr Zimmer an [ 44 ]

Es geht mich nichts an. Es kann mir egal sein. Aber das Stechen in der Brust will etwas anderes, es sagt mir: Alles was mein Leben betrifft, geht mich etwas an und diese Frau, dieser Moment, diese Situation, dieses Projekt, das alles bin ich, sind Teile von mir, das ist mein Leben, natürlich geht es mich etwas an.Meine Finger fahren den Spalt zwischen Tür und Zarge entlang und ich möchte mit der Nase daran entlangfahren, die Luft von drüben, von drinnen, von draußen, aus Frauchens Welt riechen, atmen, in mich hineinziehen, durch den Schlitz gierig in mich hineintanken, mich vollmachen, die ganze Brust mit Frauchens Luft.
Ich kenne das Erdgeschoss, einen Teil des Kellers und die zweieinhalb Zimmer unter dem Dach, Riekes Wohnung. Zweieinhalb Stockwerke sind mir komplett unbekannt. Riesige Areale müssen das sein, ich habe keine Ahnung, was hinter diesen Türen geschieht oder wie es dort aussieht. Gruber muss hinter einer der Türen wohnen. Aber was macht Frauchen mit all dem Raum? Die Türen sind mit einem Code gesichert, mir unzugänglich.

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Ode an [ 45 ]

Oh, kleine gute Stadt. Oh, glücklicher Ort, du heitere Welt, du goldenes Licht, du grünes, grünes Gras, du flaches Land, du Übersichtlichkeit, du Gartenzaun. Du Hecke, du Straße, du Biosupermarkt. Du Kinderwagen und freundlicher Nachbarschaftsgruß, du joggende Lebendigkeit. Du Nieselregen, du Fußballkneipe, du grüne Stadt. Du Kirchturm, du Reetdach, du kulturinteressiertes kleines Ding, du große Stadt mit dörflichem Charme, du Stadt gewordenes Dorf, du Fahrrad, du Gemüsekiste, du Grünkohl und Pinkel, du Gemüsesuppe und Kaffeekultur, du Friesentee und minimale Metropolregion, du niemals aus den Fugen geratene, du beschauliche, gemütliche, liebenswerte Stadt, du verwinkeltes Ding, du. Du Hort des Glücks, du freilaufende Kuh, du glückliches Huhn, du Biopastinake, du mit deinen vielen alten Höfen, machst mich ganz verlegen, wie du dich da unschuldig räkelst, oben im Norden, und dich uneitel im Nieselregen aufhältst. Weiterlesen

Eine ganz große Anwesenheit [ 46 ]

So vergingen die Tage. Eine ganze große Weile. Ich habe nichts davon gezählt, weil es um Zählen plötzlich nicht mehr ging. Es ging darum, zu verstehen, anzukommen, zu atmen, mich zu reinigen. Ich schlief bei Müdigkeit am Ufer meines kleinen Sees, ich aß bei Hunger, was ich eben fand, Insekten, Moos und Beeren, ich rannte, wenn die Beine wollten, wie ein Kind durch das Gestrüpp, ich sang, wenn etwas in mir wollte, laut wie ein Vogel am Morgen, ich turnte, lachte, schwieg und dachte nach. Ich war frei. Und fast vergaß ich, warum ich an diesem See saß und wartete. Das waren die Tage. Ich spürte. Mich. Hier. Unglaublich. Eine ganz große Anwesenheit. Und da sitze ich an diesem See, auf einem Grün, unter einem Blau, in einem Zwitschern und Rascheln und Gluckern und einem ganz leichten Wind. Und ich strecke mich aus, so voll von mir selbst, endlich, lege mich lang und flach in diese satte glückliche Welt, breite mich aus, fühle die warmen Strahlen auf meinem Leib, schließe die Augen.

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Das unglaubliche Spiel [ 47 ]

Rieke bleibt, wo sie ist. In Sicherheit. Während ich den Absprung vorbereite. Ich gleite durch den Garten wie auf Zehenspitzen, schleiche durch das Halbdunkel, schließe geräuschlos die Tür auf und doch: Plötzlich tritt Frauchen aus dem Schatten:
„Sie waren in meinem Zimmer.“
„Dacht ichs mir.“
„Was?“
„Dass sie Kameras haben.“
„Ich habe Sie gerochen. Nicht gesehen.“
„Dass ich nicht lache.“
„Es ist so.“
Frauchens Augen sind zusammengekniffen, Schlitze zum Münzeinwurf. Habe ich sie wirklich knacken können? Wütend machen? Habe ich Sand in ihr Getriebe gestreut? Sie aus dem Gleichgewicht gebracht? Dieses kleine Wesen aus Balance und Ruhe und Überlegenheit. Ich muss lächeln.
„Wollen Sie sagen, dass ich rieche?“
Ich muss grinsen, filmreifer Dialog. Es geht peng-peng, ich denke gar nicht, mein Mund klappt auf und zu, es redet aus mir. Weiterlesen