Damals wie heute [ 12 ]

Natürlich würde man gerne die Geschichte des ersten Oldenburger Stadtschreibers unter den Tisch kehren – aber wie das meiste, was man gerne unter den Tisch kehren würde, hat sich auch diese Geschichte verselbstständigt und im gesamten Umland die Runde gemacht.

Vor vielen Jahren war in den großen Städten der Region die Mode aufgekommen, sich einen Stadtschreiber zu halten. Meist waren dies verschreckte, bucklige Schreiberlein, die in einem Turmzimmer oder einer Kellerwohnung saßen und für einen Hungerlohn Tag und Nacht alles verzeichneten, was in der Stadt geschah.

Hannover hatte einen Stadtschreiber, Bremen hatte einen Stadtschreiber; und als man munkelte, Hamburg habe sogar drei Stadtschreiber, da war es dem großen Häuptling Anton genug und er beauftragte einen seiner Beamten damit, einen Stadtschreiber auch für Oldenburg zu finden.

Trotz Turmzimmerchen, trotz bestem Hungerlohn und jeder Menge Material, das verarbeitet werden wollte, fand sich wochen-, gar monatelang kein buckliges Schreiberlein, dass sich in Oldenburg niederlassen wollte.

Der große Häuptling Anton fasste sich ein Herz, setzte sich in seine Kutsche und fuhr nach Hamburg, von wo er wenige Tage später zusammen mit einem unförmigen Sack wieder zurückkam. Er ließ es sich nicht nehmen, den Sack höchstpersönlich hoch ins Turmzimmerchen zu schleppen. Oben angekommen schüttelte er ihn noch ein wenig, langte hinein und beförderte schließlich das prächtigste bucklige Schreiberlein zutage, das die Stadt jemals gesehen hatte.

Jetzt also Oldenburg, sagte der große Häuptling Anton noch, bevor er dem Männlein auf die Schulter klopfte, ihm eine Feder in die Hand drückte und das Turmzimmer verließ.

Das starke Geschlecht [ 13 ]

Aber einmal war es selbst in Oldenburg soweit: Es stand so schlecht um die Stadt, dass der große Häuptling Anton meinte, es sei alles verloren, der Untergang stehe unmittelbar bevor. Oldenburgs Ende, so schien völlig klar zu sein, war besiegelt.

Dabei war die Räuberschar, die sich am frühen Morgen durch ein nur nachlässig verschlossenes Stadttor geschlichen hatte, gar nicht einmal größer als die Gruppen, die man sonst schon aus der Ferne kommen sah und sich manchmal so sehr über sie moquierte, dass man sie versehentlich in die Stadt gelangen ließ – wo man sie dann, zur allgemeinen Belustigung, für ein paar Tage in die so typischen Oldenburger Erdlöcher steckte.

Größer war die Räuberschar also nicht. Aber sie war bis an die Zähne bewaffnet, ausstaffiert mit Tierfellen, die Gesichter bemalt mit etwas, das nach Blut aussah; den Kindern schauderte es, den Männern schauderte es, selbst der große Häuptling war ratlos.

Einzig die Frauen von Oldenburg nahmen sich ein Herz, stiegen – als wäre es vereinbart worden; als sei es unausgesprochene Pflicht aller Bürgerinnen – in die oberen Geschosse ihrer Häuser hinauf, öffneten die Fenster – und ließen ihr Haar herab.

Blondes, braunes und schwarzes Haar wogte durch die Straßen der Stadt, erfüllte jeden Winkel und brandete sogar gegen die Stadttore an. Die Banditen verfingen sich in den hüfthohen Haarsträhnen, stolperten, und wer von ihnen sich einmal verfing, für den gab es keine Rettung mehr.

Nach einigen Stunden blieb den Oldenburger Männern nichts weiter zu tun, als herzugehen und die Räuber aus den Haaren ihrer Frauen zu pflücken. Einer von ihnen, der Jüngste, soll von einer gewissen Dame aus gutem Hause unterschlagen worden sein – was später aufs vehementeste dementiert wurde, natürlich.

Salzfeuer [ 14 ]

Geld ist so eine Sache. Für gewöhnlich fehlt es nicht in Oldenburg; wann immer aber die Stadtväter doch eine gewisse Spärlichkeit in der Stadtkasse feststellen, wird den Bürgern über Ausrufer mitgeteilt, dass es wieder Zeit für ein Salzfeuer sei.

Zu diesem Zweck trifft man sich am frühen Morgen vor den Toren der Stadt. Besonders geeignet sind dafür die Wiesen und Brachflächen, die langsam gen Wald führen. Die geübtesten Frauen und Männer entfachen Feuer, die sich über die Ebene ausbreiten und nur äußerst schwer im Zaum zu halten sind.

Ein Phänomen tritt auf, dass den Oldenburgern an sich wie auch der Erde, auf der sie leben, unvertraut und eklig ist: Hitze. Während die Bürger damit beschäftigt sind, dem Feuer seine Form zu geben, gibt es für die Erde nur eines zu tun – zu schwitzen. Stundenlang wird ihr eingeheizt, und wenn die Feuer schließlich erloschen sind und die Erde sich abgekühlt hat, liegt sie dar unter einer weißen Kruste, die fast wie winterlicher Raureif aussieht.

Tatsächlich handelt es sich um das Oldenburger Schweißsalz. Mit Spitzhacken und Schaufeln wird es von der Erde endlich abgeschabt und zur Aufbereitung in die Stadt getragen. Der Verkauf ist so lukrativ, dass sich die Stadtväter hinterher sogar leisten können, die Brandflächen mit kaltem Wasser zu besprenkeln. Als Linderung, gleichsam.

Eine Art Baumhaus [ 15 ]

Besonders bemerkenswert aber war der Tag, als die Oldenburger aufwachten und feststellten, dass sich ihr prächtiges Schloss knappe acht Meter über den Boden erhoben hatte. Das Geschrei und Gezeter war groß; erst sollten’s mal wieder die Hamburger gewesen sein, dann die Bremer, und nach kurzer Zeit schon suchte man die Schuld bei wahlweise den Dänen, den Katholiken oder dem Beelzebub.

Nach genauerer Untersuchung stellte sich dann heraus, dass keiner der Beschuldigten etwas mit der Angelegenheit zu tun gehabt haben konnte. Das Schloss war weder von Manneshand noch von schwarzer Magie aus seinem Fundament gerissen worden, sondern von einem massiven Eichenwald.

Die Bäume wuchsen so eng beieinander, dass sie ganze Gebäudetrakte in die Luft hoben, ohne sie zu zerreissen. Ihre Kronen pressten so gleichmäßig von unten gegen die alte Wasserburg, dass sie keine andere Wahl gehabt hatte, als mit den Bäumen aus dem Boden zu wachsen.

Der Stadtschreiber, der sich sofort durch alte Aufzeichnungen wühlte, fand, dass das Schloss vor über tausend Jahren auf Pfählen aus Eichen gegründet worden war. Wie die Bäume nun, nach all der Zeit, wieder zum Leben erwachen konnten, stand da nicht. Vielleicht hatte es etwas mit dem überaus warmen, regenreichen Frühling zu tun gehabt.

„Großer Häuptling“, wandte sich der Stadtschreiber an Anton Günther, „Sie werden fortan mit einer Art Baumhaus vorlieb nehmen müssen.“

Eine Qual [ 16 ]

Es muss im Frühling gewesen sein, vor einigen Jahren vielleicht, da bekamen die Oldenburger Schulen Besuch von einer Delegation aus der Provinz. Lehrer und andere Beamte aus einem fernab gelegenen Örtchen waren angereist und wollten sich einmal besehen, wie die Oldenburger ihre Kinder unterrichteten. Wo so erfolgreiche und einfallsreiche Kaufmänner lebten, dachten sie wohl, da musste man sich einmal umsehen und feststellen, ob man nicht etwas für den Hausgebrauch übernehmen könnte.

Die Überraschung war groß: In der ersten Zeiteinheit, so lernten sie schnell, war das Fach „Durcheinanderschreien“ vorgesehen. Danach folgte „Rhythmisches-Mit-Dem-Kopf-Gegen-Die-Wand-Schlagen“ und in der letzten Doppelstunde lasen die Lehrer den Kindern Texte aus den dümmsten Büchern vor, die ihnen je untergekommen waren.

Daraufhin folgte ein Test, und wenn eines der Kinder auch nur einen sinnvollen Satz niedergeschrieben hatte, bekam es einen Verweis und die Eltern wurden in die Schule zitiert. Als die auswärtige Delegation später beim Bürgermeister Beschwerde über das Erlebte einreichen wollte, wurden sie darüber belehrt, dass es in Oldenburg nicht darum gehe, die Kinder zu mehr Intelligenz zu erziehen.

Vielmehr seien die Oldenburger Kinder von Geburt an so intelligent, dass es völlig unerträglich sei. Genauer genommen wären die Blagen in ihrem hochintelligenten Urzustand eine Qual. Und um sie einem gewöhnlicherem Maß anzupassen, müsse man sie eben verblöden. So sanft wie möglich, versteht sich. Was dabei am Ende herauskomme, sei immer noch überdurchschnittlich genug.