als die Zeit stehen blieb [ 20 ]

Alles wird immer schräger. Träume ich? Bin ich wach? Haben Lohmanns Substanzen irgendwelche Verschaltungen in meinem Hirn zerlegt? Was passiert hier?

Wer war meine Mutter?

Hatte sie eine andere Familie?

Wer ist dieser verdammte Absender?

uhr (Andere)

Sie sieht sich um [ 21 ]

Es wird langsam warm.
Wir schreiten durch den parkähnlichen Garten. Schweigen. Ihre zierlichen Finger in den Taschen ihres weiten grauen Wollpullovers. Schritte auf knirschendem Kies. Mein Herz schlägt bis zum Hals, warum?
“Fünfundzwanzigtausend”, würge ich irgendwann hervor. “Keine Festanstellung.”
Ihr Blick springt mir ins Gesicht, ihr Lächeln streift mich kurz. Sie nickt.
“Es liegt bei Ihnen”, sagt sie und zuckt ihre winzigen Schultern. “Sehen Sie”, sie nickt in Richtung eines Schuppens. Dann bleibt sie unvermittelt stehen und dreht sich zu mir. Ihre Hände fassen meine. Kleine, weiche, warme Hände. Ihr Gesicht kommt meinem nah, nicht zu nah, eben so, dass es zu ihrer gesenkten Stimme passt: “Es liegt bei Ihnen. Ich brauche Sie. Ich habe Pläne, aber dafür brauche ich Sie.”

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Freies Europa [ 22 ]

Als ich zweiundzwanzig war, habe ich innerhalb von ein paar Monaten so viel Geld verdient, dass ich mein Geschäft eröffnen konnte. Die Räume anmieten, meine Werkstatt einrichten. Ich hatte einen Führerschein und Europa war offen, die Grenzen wurden nur stichprobenartig kontrolliert. Ich machte ein paar Kurierfahrten, insgesamt vielleicht acht oder neun. Kutschierte in unauffälligen Autos auffällige Mengen illegaler Substanzen von Rotterdam nach Wien, von Frankfurt nach Paris, von Düsseldorf nach Madrid und so weiter. Schöne, lange, einsame Fahrten. Bin nicht erwischt worden und habe über zwanzig tausend Euro verdient. Es lebe Europa.
Seitdem unabhängig und frei. Ich kann machen, was und wann ich will. Die Werkstatt lief nicht sofort, natürlich nicht, aber es ging auch nie ums Überleben. Hatte schnell kleine Aufträge an Land gezogen, einen kleinen Shop betrieben, Kuriositäten-Kabinett. Lief nicht blendend, aber immer so, dass ich mich über Wasser halten konnte. Und ich hatte einen Plan, wusste, wohin ich wollte. Ich musste nur irgendwo den Fuß in die Tür bekommen. Eine Hand voll größerer Aufträge, ein paar Kunden mit Strahlkraft, Leute, die, hätten sie erstmal ein paar Tierskulpturen in den Eingangsbereichen ihrer Anwesen, Inspiration wären für andere. Adel, Wirtschaft, Promis. Josef Ackermann, Boris Becker, Mariah Carey. Pudel und Grizzleys. Warum sollte ich jetzt, wo alles läuft, diese Freiheit aufgeben? Das einzige, das hält, ausgerechnet?

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Glitter [ 23 ]

Post aus Oldenburg. Die Sache wird immer schräger. Was soll der Scheiß. Meine Mutter ein Showstar?
Wenn es einen Prototypen für graue Mäuse gäbe, dann wäre das wohl meine Mutter gewesen. Ein stiller, blasser Mensch, humorbefreit bis in die Leber. Konnte nicht mal lachen, wenn man sie kitzelte. Habe ich meine Mutter lachen sehen? Ich meine nicht das Lächeln für Fotos oder fremde Blicke. Ich meine lachen, weil sie etwas komisch fand. Lachen, für sich. Aus sich heraus, ungeplant.
Tanzen? Ja, das sicher. Paartanz. Ich kann mich an Festivitäten (es braucht so ein sperriges Wort, um zu beschreiben, was gemeint ist) erinnern, auf denen meine Mutter sich durch den Raum schieben ließ und Schritte aufführte. Wenn meine Mutter gelacht hätte, dann so wie sie tanzte: verordnet, geordnet, auswendig gelernt, ohne Bezug zur Musik. Sie tanzte wie sie kochte, sparsam, nach Rezept, im Hinblick auf Sättigung. Sie kochte, wie sie aß, ohne Sinnlichkeit. Sie aß wie sie sprach, leise, hastig, wenig. Sie sprach, wie sie lebte, stimmlos, monoton, schüchtern. Sie lebte, wie sie starb. Eilig, schmerzhaft, sich entschuldigend für die Zumutungen, die sie anderen zu bereiten glaubte.
Mag sein, dass sie Träume hatte. Wahrscheinlich. So unrecht hat der Spinner nicht. Jeder hat Träume, selbst ich. Und was weiß ich von den geheimen Wünschen meiner Mutter. Wir sprachen selten mehr als das Nötigste. Vielleicht stimmt es. Vielleicht muss man es machen, wie der Spinner, um sie zu begreifen, von innen her zu begreifen: sie völlig vergessen. Aufgeben und verlieren. Von ein paar glitzernden Plastiksternchen ausgehen und blind nach den erstbesten Assoziationen greifen. Vielleicht. Vielleicht nur so.

glitter (2)

Der Riekekern [ 24 ]

Koche Haferflocken in Milch, Zucker und Zimt. Auf diese Weise begonnene Tage könnten gelingen, denke ich und rühre. Projekt: gelungenes Leben. Warum eigentlich nicht? Man muss gar nicht auf Selbstzerstörung laufen, nur weil man das Gefühl hat, die Welt hätte sich gegen einen verschworen. Ist nur mittelmäßig logisch, sich selbst zu schwächen, bevor man in den Kampf zieht. Eine halbe Schachtel Zigaretten und Rotwein zum Frühstück, das geht. Und kann witzig sein. Aber im besten Falle für drei oder vier Stunden. Porridge kann langweilig sein und nach überstandener Kindheit schmecken, aber man bekommt keinen ergiebigen, bröckelig gelben Husten davon und keine bohrenden Kopfschmerzen. Vier verpasste Anrufe. Vier Mal Rieke. Ich war einfach aufgestanden und gegangen. Hatte sie mit ihrer zertretenen, zerrissenen, vollgepissten Wohnung allein gelassen. Mein schlechtes Gewissen groß wie ein Mückenbein, eine kichernde Erinnerung an einen zügellosen Nachmittag. Hatte mir am Abend noch überlegt, wann ich das mal wiederholen würde. Vielleicht sollte es eine feste Einrichtung werden: einmal alle zwei Wochen meine Schwester besuchen. Ihr einen Besuch abstatten. Nein, nicht ihr, ihrer Wohnung. Sie zerleben. Rieke die Aufmerksamkeit geben, die ich ihr einst versprochen hatte. Ich würde mich immer um sie kümmern. Mich kümmern. Das wollte ich. Und das werde ich. Ihre Nachricht: “Loris, ich bin dir nicht böse. Ich verstehe deine Wut. Kannst du bitte mit mir sprechen. Ich brauche deine Hilfe. Dringend. Es ist wichtig.” Ich bin nicht einfach einer, so wie andere.

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