Heute kann ich häuten [ 35 ]

Lohmann kommt mit der Lieferung.
Dieser Kasper und wie er sich umsieht, ob ihm auch keiner gefolgt ist. Nicht neugierig, wo ich wohne, sondern ängstlich, einer könne ihn gesehen haben. Er will sein Köfferchen so schnell wie möglich loswerden. (Kaffee? Nein, nein.) Wie ein ängstlicher Vogel steht er auf einem Bein mitten in meinem Atelier und sieht sich mit ruckartigen Bewegungen meine Halle an. Ich bezweifle, dass sein Gehirn die Bilder sinnvoll zusammensetzt. Lohmann ist ganz woanders. Er sieht sich mit Beton an den Füßen auf dem Meeresgrund. Lohmann hat immer Schiss. Wie kann man so ein Leben führen, das sich notwendigerweise immer das Schlimmste ausdenkt? Lohmann sieht niemals Möglichkeiten, er sieht nur Fallen. Das Leben ist für ihn eine Aneinanderreihung von Katastrophen. Warum nimmt Lohmann nicht mal ein paar seiner eigenen Pillen gegen sein beschissenes Leben. Ich lasse ihn laufen. Reize seine Nerven nicht unnötig.
Er nickt und hebt die Hand und ist mir nichts dir nichts draußen. Ich höre die Metalltür, dann Lohmanns Wagen, den Kies, die Stille. Lohmann, so ein Würstchen, ein bis oben hin gefüllter Mastdarm mit nach Angst stinkender Scheiße. Ich bin sauer auf den Wurm, er hätte ruhig mal fragen können. Ein paar Fragen wären drin gewesen. Aber er war so damit beschäftigt, sich nicht in die Hosen zu scheißen, dass er von all dem hier wirklich nichts mitbekommen hat. Spast. Ich öffne den Koffer, denke nur noch: Halleluja. Gut investiertes Geld. Ein Planschbecken voller Chemikalien. Time for Kindergeburtstag.

In meinem Atelier ist alles so sauber, glatt und spiegelnd. Jungfräulich. Es ist ein Stipendium, denke ich, ein Forschungsauftrag. Ich bin der Präparator am Hofe des Frauchens Resiak mit den Schildkrötenhändchen, Präsidentin in Aufsichtsrats Reich.
Schlürfe laut Kaffee und laufe hin und her, schönes Geräusch, mein Schlürfen und das Echo in meiner Halle. So groß, so leer, so allein. Perfekt ausgestattet liegt eine große neue Geschichte vor mir. Das lässt sich spüren. Ein Spiel. Ein Abenteuer. Jump-and-Run-Adventure mit ein bisschen Strategie.

Ich lege meine Hand auf den kalten, toten Leib in der Plastikwanne. Aufsichtsrat ist kühl und nass, aber getaut. Heute kann ich häuten.

Keine Sorgen mehr [ 36 ]

“Bei ihr ist das so eine komische Mischung.”
“Was meinst du?”, fragte ich und Rieke kniff die Augen zusammen. Sie griff nach ihrem Schnürsenkel und zog daran.
“Sie ist stark und schlau. Sie hat… so… sie kann alles machen. Ich glaube sogar, sie kann… ich weiß nicht …”
“… Einem in den Kopf gucken? Gedanken lesen?”, fragte ich etwas zu laut.
Riekes Mund klappte auf, sie hielt inne, als wollte sie etwas sagen, würde aber daran gehindert, als verhake sich etwas in ihr. Sie schüttelte ganz leicht den Kopf und deutete mit ihrem gekrümmten Zeigefinger undeutlich auf ihr verkantetes Kinn. Dann schien sich der Krampf ganz plötzlich zu lösen und Rieke sagte ganz flüssig:
“Nein.” Sie sah mich gierig an. Untersuchte mich. Sagte dann: “Menschen führen. Das ist es. Sie kommt mir vor, wie eine Sektenführerin, weißt du, so eine Lichtgestalt, eine…”
“… Heilige!?”, lachte ich. Und Rieke lachte mit mir, aber nur um unser Lachen dann jäh zu unterbrechen und mich ernst anzublicken, starr: “Ja. Vielleicht auch das. Irgendetwas hat sie, es ist nicht normal. Bei allen anderen Menschen kann ich immer fühlen, was gut ist und was schlecht. Das weißt du, ich habe das einfach in mir. Aber bei ihr, da kann ich es nicht. Es ist wie eine Dimension, die ich nicht fassen kann. Ich habe kein Gefühl zu diesem Menschen und das macht m….”
Und wieder schien sich etwas in ihrem Inneren gegen das Aussprechen weiterer Worte zu sperren. Aber mir reichte, was ich gehört hatte, die Worte waren auf meine Brust getropft, langsam sickerten sie ein. Ich legte meinen Arm um meine Schwester und zog sie zu mir heran. Legte meine Lippen sanft auf ihren Scheitel und fühlte, wie langsam die Verkantung aus ihr wich. “Ich bin jetzt wieder da”, sagte ich. “Du hast einen Bruder, du brauchst keine Sorgen mehr”. Ich sagte es aus Versehen so. Was ich sagen wollte: “… also musst du dich nicht mehr sorgen.” Aber das sagte ich aus irgendeinem Grunde nicht. Ich korrigierte mich allerdings auch nicht, weil ich wusste, dass Rieke mich verstanden hatte, denn sie schmiegte sich an mich, grub ihr Gesicht in meinen Hals. Es klang trotzdem wie ein Versprechen. Sollten wir Angst haben?
Ich drückte Rieke an meine Seite, wie man Mull auf eine Wunde drückt, aber der Schmerz blieb, das Stechen südlich der Rippe. Nicht schlimm, eher schabend.
Sie legte ihre Lippen auf mein Ohr und flüsterte: “Lass uns gehen.”

Über Bande [ 37 ]

Allein der erste Schnitt.
Dieses Gefühl. Ein Skalpell anzusetzen und in die tieferen Schichten vorzudringen. Das Unsichtbare freizulegen, Geheimes hervorzuholen, ins Licht zu zerren. Meine Spuren zu hinterlassen und dann wieder zu verwischen.
Es geht nicht um mich.
Und das heißt: Es geht um etwas Größeres. Und das heißt: Es gibt etwas Größeres. Weil wir es denken können. Wenn auch nur über Bande.
Schnitt.
Und wie das Fleisch ins Licht platzt, als habe es jahrelang nur auf diesen Moment gewartet, als sei es nur dafür gewachsen, ist ein ebensolcher Beweis. Schnitt, nur nach oben, um an den Knochen nichts zu beschädigen.

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Mechanik des Kosmos [ 38 ]

Habe mir extra den Wecker auf Yoga gestellt.
Sitze schon seit zwanzig Minuten hier auf meinem Klappstuhl und warte im angenehm kühlen Morgendunst, saufe Rotwein aus der Flasche, höre dem Gebrüll der Vögel zu und denke, wie still sie einmal in meinem Tempel stehen werden. Dann endlich geht das Fenster auf und Rieke und Frauchen betreten die Bühne. Sieht man bei Rieke schon einen Bauch? Ich kneife die Augen zusammen, schwer zu sagen. Und da breitet Frauchen auch schon die Arme aus und hebt ihr eines Bein, es geht los. Sie hebt ab. Ich möchte meine Augen weiter öffnen, ich möchte ganz aufmachen, sie hereinlassen, diese Leichtigkeit, diese Kraft, diese Kontrolle. Alles an Frauchen ist so ohne Ende mühelos, so elegant, sie steht da wie ein Ypsilon, engelsgleich. Rieke nickt und dann berühren sich über Frauchens Kopf, hinter ihrem Rücken, die Hände und ihr Fuß. Sie steht da, auf einem Bein, Schattenriss einer Lupe, Symbol der Weiblichkeit, gleich müsste Rieke mit der Peitsche knallen und eine große Katze würde durch Frauchens Kreis springen wie im Zirkus. Aber Frauchen gleitet einfach weiter, in einer nicht endenden, nicht stockenden, gleichmütig fließenden Bewegung, löst sich die Lupe auf, sie ist Honig, ist Wasser, ist eins mit der Zeit und dem All. Sie sinkt, die Arme zum Himmel ausgebreitet, zu Boden, ihre Beine gleiten nach vorne und hinten auseinander. In so vollendeter Langsamkeit landet sie im Spagat und gleitet direkt weiter, gleitet. Gleitet, schwimmt, schwebt, sie ist die Bewegung, die Konzentration, sie ist die Definition von Eleganz. Weiterlesen

Geh nicht zu tief hinein [ 39 ]

In meinem Wohnblock: Ein ganzes Stockwerk gefliest. Rundherum: Boden, Wände, Decke. Kniehoch Wasser. Schummeriges Licht, nicht zu hell und nicht zu dunkel. Darin Eichhörnchen, rasiert und mit Dorschaugen. Auf Holzscheiten umhertreibende Marder mit bohrenden Blicken. An den Wänden kleben Aale und Eidechsen, lauernd, wie zum Sprung bereit. Man muss, um ins nächste Geschoss zu gelangen, durch dieses Wasser waten. Einen langen Flur entlang, durch dunkle Bereiche, und man wird hoffen, nicht gebissen zu werden, weil es nichts Schlimmeres gibt, nichts Gruseligeres, als Bisse von unten, in die nackten Beine, von Wesen, die man nicht sehen kann, die schnell und elegant durch ein fremdes Element gleiten, in dem man selbst nur zu Gast ist. Wesen, die aus unbekannter Tiefe kommen könnten. Mit Zähnen, Giften und Absichten, von denen mein Luft und Erde gewohntes Hirn nichts weiß.

Über der Treppe ins nächste Geschoss ein Schwarm Mauerspatzen, im Tanz gefroren, im Flug gestoppt, stehen sie in der Luft, genau im Moment des Entschlusses zur Flucht. Dieser seltsame Moment, wenn alle Individuen eines Schwarms scheinbar ohne Kommando und äußere Anzeichen im selben Augenblick dieselbe Entscheidung treffen und einhellig die Richtung ändern. Dieser Moment der totalen Umkehr, für immer hier archiviert.

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