Salzfeuer [ 14 ]

Geld ist so eine Sache. Für gewöhnlich fehlt es nicht in Oldenburg; wann immer aber die Stadtväter doch eine gewisse Spärlichkeit in der Stadtkasse feststellen, wird den Bürgern über Ausrufer mitgeteilt, dass es wieder Zeit für ein Salzfeuer sei.

Zu diesem Zweck trifft man sich am frühen Morgen vor den Toren der Stadt. Besonders geeignet sind dafür die Wiesen und Brachflächen, die langsam gen Wald führen. Die geübtesten Frauen und Männer entfachen Feuer, die sich über die Ebene ausbreiten und nur äußerst schwer im Zaum zu halten sind.

Ein Phänomen tritt auf, dass den Oldenburgern an sich wie auch der Erde, auf der sie leben, unvertraut und eklig ist: Hitze. Während die Bürger damit beschäftigt sind, dem Feuer seine Form zu geben, gibt es für die Erde nur eines zu tun – zu schwitzen. Stundenlang wird ihr eingeheizt, und wenn die Feuer schließlich erloschen sind und die Erde sich abgekühlt hat, liegt sie dar unter einer weißen Kruste, die fast wie winterlicher Raureif aussieht.

Tatsächlich handelt es sich um das Oldenburger Schweißsalz. Mit Spitzhacken und Schaufeln wird es von der Erde endlich abgeschabt und zur Aufbereitung in die Stadt getragen. Der Verkauf ist so lukrativ, dass sich die Stadtväter hinterher sogar leisten können, die Brandflächen mit kaltem Wasser zu besprenkeln. Als Linderung, gleichsam.

Eine Art Baumhaus [ 15 ]

Besonders bemerkenswert aber war der Tag, als die Oldenburger aufwachten und feststellten, dass sich ihr prächtiges Schloss knappe acht Meter über den Boden erhoben hatte. Das Geschrei und Gezeter war groß; erst sollten’s mal wieder die Hamburger gewesen sein, dann die Bremer, und nach kurzer Zeit schon suchte man die Schuld bei wahlweise den Dänen, den Katholiken oder dem Beelzebub.

Nach genauerer Untersuchung stellte sich dann heraus, dass keiner der Beschuldigten etwas mit der Angelegenheit zu tun gehabt haben konnte. Das Schloss war weder von Manneshand noch von schwarzer Magie aus seinem Fundament gerissen worden, sondern von einem massiven Eichenwald.

Die Bäume wuchsen so eng beieinander, dass sie ganze Gebäudetrakte in die Luft hoben, ohne sie zu zerreissen. Ihre Kronen pressten so gleichmäßig von unten gegen die alte Wasserburg, dass sie keine andere Wahl gehabt hatte, als mit den Bäumen aus dem Boden zu wachsen.

Der Stadtschreiber, der sich sofort durch alte Aufzeichnungen wühlte, fand, dass das Schloss vor über tausend Jahren auf Pfählen aus Eichen gegründet worden war. Wie die Bäume nun, nach all der Zeit, wieder zum Leben erwachen konnten, stand da nicht. Vielleicht hatte es etwas mit dem überaus warmen, regenreichen Frühling zu tun gehabt.

„Großer Häuptling“, wandte sich der Stadtschreiber an Anton Günther, „Sie werden fortan mit einer Art Baumhaus vorlieb nehmen müssen.“

Eine Qual [ 16 ]

Es muss im Frühling gewesen sein, vor einigen Jahren vielleicht, da bekamen die Oldenburger Schulen Besuch von einer Delegation aus der Provinz. Lehrer und andere Beamte aus einem fernab gelegenen Örtchen waren angereist und wollten sich einmal besehen, wie die Oldenburger ihre Kinder unterrichteten. Wo so erfolgreiche und einfallsreiche Kaufmänner lebten, dachten sie wohl, da musste man sich einmal umsehen und feststellen, ob man nicht etwas für den Hausgebrauch übernehmen könnte.

Die Überraschung war groß: In der ersten Zeiteinheit, so lernten sie schnell, war das Fach „Durcheinanderschreien“ vorgesehen. Danach folgte „Rhythmisches-Mit-Dem-Kopf-Gegen-Die-Wand-Schlagen“ und in der letzten Doppelstunde lasen die Lehrer den Kindern Texte aus den dümmsten Büchern vor, die ihnen je untergekommen waren.

Daraufhin folgte ein Test, und wenn eines der Kinder auch nur einen sinnvollen Satz niedergeschrieben hatte, bekam es einen Verweis und die Eltern wurden in die Schule zitiert. Als die auswärtige Delegation später beim Bürgermeister Beschwerde über das Erlebte einreichen wollte, wurden sie darüber belehrt, dass es in Oldenburg nicht darum gehe, die Kinder zu mehr Intelligenz zu erziehen.

Vielmehr seien die Oldenburger Kinder von Geburt an so intelligent, dass es völlig unerträglich sei. Genauer genommen wären die Blagen in ihrem hochintelligenten Urzustand eine Qual. Und um sie einem gewöhnlicherem Maß anzupassen, müsse man sie eben verblöden. So sanft wie möglich, versteht sich. Was dabei am Ende herauskomme, sei immer noch überdurchschnittlich genug.

Das Grasnarbenfest [ 17 ]

Das wundersamste Fest, das in Oldenburg gefeiert wird, ist wohl das Grasnarbenfest. Leider ist außerhalb von Oldenburg kaum etwas davon bekannt; was daran liegt, dass bei dem Fest die Anwesenheit von Ausflüglern verboten ist. Zu schlechte Erfahrungen hat man in Oldenburg mit Fremden gemacht, die während des Grasnarbenfestes abseits stehen, an ihrem Bier sückeln und sich verhalten über die Oldenburger mokieren: Wie sie sich im Vorfrühling im Schlossgarten versammeln, niederknien, und bei lauter Musik und jeder Menge Bier solange am Gras ziehen, bis es ihrer Meinung nach schon etwas länger geworden ist. Natürlich wird dabei auch regelmäßig mehr Gras herausgerupft, als es den Gärtnern lieb sein kann. Aber die Tradition diktiert nun mal, dass in Oldenburg das Gras schneller wächst, wenn man daran zieht. Und das kam so:

Als der Schlossgarten angelegt wurde, wurde ein bekannter Gartenbauer eingestellt. Große Gärten hatte der bereits in Potsdam und Hannover angelegt. Sandiger Untergrund war ihm mehr als geläufig; das nasse Terrain, auf dem sich Oldenburg befindet, war buchstäblich – Neuland. Und während die Terrassen und Pavillons und Wege Form annahmen, sah es mit der Pflanzenwelt noch spärlich aus. Vor allem der Rasen bereitete den Oldenburgern Kummer. Er wollte einfach nicht wachsen. Sie beschwerten sich so lange über die Langsamkeit des Vorhabens, bis der bekannte Gartenbauer den Vertrag kündigte.

Ganz gesichert ist es nicht, aber als der Herzog ihn bei seiner Abreise fragte: „Ja, was sollen wir denn jetzt mit dem Gras machen?!“, da soll der bekannte Gartenbauer geantwortet haben: „Nu, immer tüchtig daran ziehen!“ Aber wie gesagt, ganz gesichert ist es nicht.

Drachensachen [ 18 ]

„Die Drachen kommen! Die Drachen kommen!“ So schallte es bis vor kurzem noch häufig durch die Straßen von Oldenburg, einer Stadt, der wirklich nichts erspart blieb. Vor allem nicht die Heimsuchungen des Hausierers Bodo Kunewald, der eine besonders feine Antenne für das Nahen der Schuppenwesen zu haben schien. Wann immer es ihm einfiel, rannte er durch die Straßen und Gassen und brüllte wie von Sinnen: „Drachen! Die Drachen kommen!“

Anfangs versteckten sich die Bürger auch folgsam in ihren Häusern, hinter ihren Karren oder dem nächstbesten Erdloch. Drachen? Wer wusste schon so genau, was wirklich draußen in den Sümpfen und Mooren hauste. Mit den Jahren gewöhnte man sich aber an die Ausbrüche von Bodo Kunewald, und niemand zuckte mehr zusammen, wenn er hinter sich schreien hörte: „Drachen!!“ Dennoch konnte die Tatsache, dass niemals ein Drache Kunewalds Ankündigung gefolgt war, niemanden von der Inexistenz von Drachen überzeugen. Insgesamt war das Konzept einfach zu plausibel. Im Mittelalter noch da gewesen, und jetzt, quasi von heute auf morgen, nicht mehr?

Diese Annahme bescherte Bodo Kunewald schließlich eine unerwartete Einnahmequelle. Die besonders Furchtsamen baten ihn um das Anfertigen ebensolcher Lederjoppen, wie er selber eine trug. Denn wenn der Drache kam und einen bei der Schulter packte, so sollte jener Bereich so gepolstert sein, dass die Klauen sich nicht durchbohren konnten. Bodo Kunewald wurde ein respektierter Lederverarbeiter, bis er eines Tages verschwand. „Nu hat der Drache ihn geholt“, flüsterten die Leute, und betraten in der nächsten Zeit nur noch in ihren Lederjoppen die Straßen.