11. Spuknester und fortschreitende Bodenkultur

Ich will nicht lügen, ich bin entmutigt. Um genau zu sein: Im Grunde habe ich schon aufgegeben. Die Sache mit der Getrudenlinde hat mir den Wind aus den Segeln genommen, und das ist hier im Norden besonders schlecht. Vielleicht fahre ich einfach wieder nach Hause, denke ich, nachdem ich ausgiebig mit Siggi und Bruno gefrühstückt habe. Bringt doch alles nichts.
Doch dann, gerade als ich beschlossen habe, Oldenburg den Rücken zu kehren und mir von hieran für meine Arbeit als virtuelle Stadtschreiberin einfach Sachen auszudenken, passieren zwei Dinge.
Ich bekomme Post.
Und einen Anruf.

„Post“, ruft Siggi am späten Nachmittag, und weil ich mich nicht angesprochen fühle, bleibe ich auf der Couch in meinem Zimmer liegen und schaue mir die sechste Folge von „Stranger Things“ auf Netflix an. Die ersten fünf habe ich mir den Vormittag über geschaut.
„Post!“, ruft Siggi, und weil ich mich nicht angesprochen fühle, bleibe ich auf der Couch in meinem Zimmer liegen und esse weiter Gummi-Bärchen.
„Post“, ruft Siggi. „Frau Hartwell!“, fügt sie hinzu.
Ich stehe auf und komme die Treppe herunter.
„Post für mich? Aber es weiß doch niemand, dass ich hier wohne.“
Siggi zuckt die Achseln. „Aufregend, nicht? Da können sie doch mal eine Geschichte drüber schreiben.“
„Eine Geschichte über jemanden, der irgendwo ist, wo er nicht wohnt, und Post bekommt?“
„Ja!“, sagt Siggi und freut sich und gibt mir einen schlichten weißen Umschlag.

In meinem Zimmer setze ich mich auf die Couch. Ich lasse „Stranger Things“ laufen und das Alien nicht aus dem Auge, während ich den Umschlag öffne. Darin ist ein weißes Blatt, auf dem steht:

Manche Sümpfe waren oftmals wahre Spuknester. Die fortschreitende Bodenkultur hat die Tümpel und Wasserlöcher beseitigt und damit die mit denselben in Verbindung gebrachten Spukgeschichten. 

(Strackerjan, Ludwig, Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg. Jazzybee Verlag Jürgen Beck: Altmünster, 2012, Position 334)

Toll, mit Quellenangabe, denke ich. Und dann wundere ich mich aber doch ein wenig. Wer schickt mir denn ein Strackerjan-Zitat einfach so? Ich drehe den Umschlag um und lese auf der Rückseite:

Erftenmoder
Oldenburg

Spuknester und fortschreitende Bodenkultur also, da muss ich nun erst mal eine Weile drüber nachdenken, aber im selben Augenblick klingelt mein Telefon. Es ist mein Bekannter.
„Ich habe eine neue Spur für dich“, sagt er, während nur wenige Schritte von mir entfernt das Alien, das wie eine fleischfressende Pflanze aussieht, über den Bildschirm stakst.
„Eine Spur?“, frage ich.
„Eine Spur“, sagt mein Bekannter.