21. Ein Mann wächst über sich hinaus

Es ist das andere.
Herman Holmers Worte verfolgen mich durch die Nacht und bis weit in den nächsten Tag hinein. Ich betrachte sein farbenfrohes Ebenbild auf der hölzernen Kiste. Habe ich bis auf den Grund der Dinge gesehen, bis in jeden staubigen Winkel? Ich klappe die Kiste auf und schaue hinein. Da liegen noch immer die beiden Reagenzgläser, welche die Erftenmoder liebevoll für mich befüllt und mir hat zukommen lassen. In dem einen befindet sich das schwarze Wasser der Haaren, in dem anderen – Es ist das andere. Darum muss es Herman Holmer, Zigarrenfabrikant aus Oldenburg, gegangen sein. Um das zweite Reagenzglas.
Vorsichtig nehme ich es aus der Kiste und halte es ins fahle Licht des Dachzimmer-Stübchens. Nachdem ich es eine Weile betrachtet habe, rufe ich meinen Bekannten an und frage ihn, ob er vorbei kommen könnte.
„Ist Herrenbesuch erlaubt?“, frage ich Siggi, als er kurz darauf an der Tür klingelt.
Siggi bejaht. „Aber nur wenn Sie da oben nicht rauchen. Gestern hat’s da oben nämlich gestunken, wie wenn einer Zigarren geraucht hätt.“
Ich verspreche Siggi, dass mein Bekannter und ich nicht mehr heimlich Zigarren rauchen werden.
„Es ist das andere Reagenzglas“, erkläre ich meinem Bekannten, als wir endlich allein sind. Herman Holmers nächtlichen Besuch behalte ich für mich.
Mein Bekannter hat keine Ahnung, wovon ich spreche, aber er ist taktvoll und falls er mich für verrückt hält, lässt er es sich nicht anmerken.
„Erkennst du das wieder?“, frage ich und reiche ihm das zweite Reagenzglas. „Ich meine, kommt dir die Farbe des Wassers irgendwie bekannt vor?“
Mein Bekannter betrachtete das Reagenzglas lange und prüfend. Dann nickt er langsam. Es ist einer dieser Momente, das spüre ich ganz deutlich, in denen Menschen über sich hinauswachsen. Mein Bekannter sieht sich das Wasser an wie er in seinem Leben noch kein Wasser angesehen hat, und als er antwortet, da tut er es auf eine ruhige, bestimmte Weise, die mich wissen lässt, dass es klug gewesen ist, sich einen Experten vor Ort zu suchen.
„Ich erkenne den Farbton, dieses sonderbar fast schon leuchtende Grün, ich erkenne es ganz sicher wieder“, sagt mein Bekannter. „Solches Wasser findet man nur an einem Ort in ganz Oldenburg.“
„An welchem?“, frage ich, und das Herz schlägt mir schnell in der Brust.
„Dieses Wasser stammt aus dem Flötenteich“, erklärt mein Bekannter. „Ohne jeden Zweifel.“