Nicht nach dem Fleisch [ 28 ]

esel (2)

 

 

 

 

 

Kann das sein? Ist der Spinner aus Oldenburg mein Onkel?
Hat meine Mutter einen Bruder? Den ich nicht kenne? Den wir alle nie kennen gelernt haben. Überhaupt: Mutters Familie. Die wir, ich habe nie darüber nachgedacht, nie kennen gelernt haben.
Hieß es nicht, sie habe keine Familie? Einzelkind und früh verstorbene Eltern? War es nicht so? Seltsam. Ich erinnere mich nicht. Muss Rieke fragen. Fotos in meinem Kopf, Erinnerungen nur an endlos langweilige Nachmittage in verwaschenen Farben in der engen, viel zu warmen Mietwohnung der Eltern des – ja was? Des Vaters meiner vermeintlichen Schwester? Meines Stiefvaters? Des Tieres.

Dass ich nie gefragt habe, woher Mutter stammt? Möglich. Es war mir vermutlich egal. So wie es mir immer egal war, dass Rieke ein Nachkomme dieses Tieres war. Ich habe sie geliebt, wenn man in meinem Fall von Liebe sprechen kann (es gab eine Tasse namens Rieke, die stellte sie mir auf die Brust und sagte: Liebe. Ich fühlte dabei nur Rieke, es war die Rieke-Tasse, das Rieke-Gefühl). Ich vermutete keine Teile von ihm in ihr. Ich vermutete Teile von ihm in mir, kannte gar welche, hasste sie, versuchte, sie abzustreifen, auszurotten, aber seltsamerweise nicht in ihr. Rieke war immer so sehr Rieke, dass alles Tierische sich in ihr nicht ausbreiten konnte, weil es keinen Boden fand. In mir dagegen, wuchs nichts eigenes und das Tier drückte seine penetranten, schnellwurzelnden, wildtreibenden, ausrankenden Samen tief in mich hinein, besetzte mich. Ich war er und nur Rieke konnte mich heilen, glaubte ich.
Ich hielt mich für ihn, ich würde er werden, unausweichlich, wenn nicht Rieke und ihre Tassen mich davor bewahren würden. Meine kleine Schwester und sonst niemand konnte dafür sorgen, dass ich mit ihr, nach ihr kam, sie war der Beweis, dass man nicht nach dem Fleisch wächst, aus dem man gemacht ist. Mit Rieke könnte ich alles werden. Dachte ich.

 

Träumen Sie groß [ 29 ]

Arbeitstische. Lampen. Regalsysteme.
Werkzeuge. Chemikalien. Zubehör.
“Was haben Sie vor?”, habe ich gefragt.
“Großes!”, hat das Mädchen gesagt, das ich Frauchen nenne. Frau Resiak.
“Ich könnte mehrere hunderttausend Euro ausgeben”, habe ich gesagt, “Sie müssen mir sagen, was Sie vorhaben, damit ich den Bedarf abschätzen kann.”
Schulterzucken, Lächeln.
“Träumen Sie, träumen Sie groß.”
“Geht es um Ihren Hund?”
Das Lächeln, die Hände, ein Augenaufschlag, der bis in meinen Magen nachschwang.
“Sie wissen, worum es geht, wenn Sie nur endlich aufhören zu fragen, mich zu fragen und anfangen auf das zu hören, was Sie wollen. Sie. Ihre Vision. Darum geht es. Ich will Ihnen nur zur Entfaltung verhelfen. Schließen Sie die Augen.” Und ich schloss die Augen und sah nichts, gar nichts, dann doch: Frauchen, ihre kleinen Hände, ihren Mund, wie ich dort hineinkriechen würde, sah das Schild an meiner alten Werkstatt, von außen bereits: Vorübergehend geschlossen und das kam mir komisch vor, sperrig, unwirklich. Vorübergehend, was ist das für ein Wort, verräterisches Wort. In der Dunkelheit auf der Rückseite meiner Lider spürte ich meine Müdigkeit. Ich wollte mich hinlegen, wärmende Arme um mich fühlen, kleine, schnelle Hände. Schwache Beine, ein Strudel, ein Sog, eine Lust, mich fallen zu lassen. Ich riss die Augen auf und sah, dass ich alleine war. Frauchen war gegangen. Geräuschlos. Ich stand in der leeren Halle, die meine Werkstatt, mein Atelier werden sollte. Beugte mich wieder über meine Kataloge.

Ich franse ausreichend aus [ 30 ]

Es gibt eine Grenze.
Ich ziehe hier nicht ein. Ich lege meine Unterhosen und Socken nicht in den von Frauchen dafür vorgesehenen Schrank. Ich arbeite hier. Ich bin zu einem gewissen Grad gespannt auf Frauchens Projekt, aber ich ziehe hier nicht ein. Das hier ist nicht mein Privatleben, auch wenn Rieke es sich hier bequem gemacht hat. Frauchen hat ihr zweieinhalb Zimmer im obersten Stockwerk zugewiesen. Sie hat am Ende des Flurs ein eigenes Bad. Die Haushälterin kocht zwei Portionen mehr (ja, ich esse mit. Es ist praktisch. Und wirklich ausgezeichnet, aber deshalb ziehe ich noch lange nicht ein). Sie hat mir die Wohnung im Souterrain gezeigt. “Ihr Reich”, hat sie gesagt. “Mietfrei. Wird zwei Mal wöchentlich gereinigt.” Saubere Handtücher, Laken et cetera. Drei Zimmer, Flachbildfernseher, Doppelbett, Regenschauerdusche, Fußheizung. Nein.
“Sie sparen sich die Fahrerei.”
“Ich liebe die Fahrerei.”
“Sie verlieren Zeit. Kostbare Zeit. Sie haben so viel zu tun. Sie haben so große Träume.”
“Was wissen Sie von meinen Träumen.”
“Sie werden sehen.”
“Ich werde nicht einziehen.”
“Das habe ich nicht behauptet.”
“Dann ist es ja gut.”
“Noch nicht.”
“Was soll das?”
“Es ist noch nicht gut.”
“Was?”
“Überlegen Sie es sich.”

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Der Unsinn des großen Ganzen. [ 31 ]


Ich breite die Arme aus. Gleite. Die Augen geschlossen. Mein Becken bewegt sich vor und zurück, auf dem Kopf könnte ich einen Eimer Wasser balancieren, ich reite. Werde getragen. Rieche das Tier, spüre seine Bewegungen an der Innenseite meiner Schenkel, ich halte mich fest an dieser lebendigen Wärme. Keine Mähne, dafür Hörner. Ohren. Fühle so viele Muskeln. Es fällt mir nicht ein, zu lenken, ich komme nicht auf die Idee. Wohin auch?
Und als ich irgendwann die Augen öffne, sehe ich um mich herum: Krähen. Krähen auf Kühen, Krähen, die Kühe reiten. Eine Armee aus Kühen, im Galopp, die entschlossen auf ein Ziel zustürmt. Und auf jedem Kuhrücken eine Krähe, manchmal zwei – Reiter, Lenker, Kapitäne. Unter ihnen: Ich, mit ausgebreiteten Armen (oder waren es Flügel?). Mein Becken bewegt sich vor und zurück oder sind es die dünnen Beine einer Krähe, die die Bewegungen der warmen Kuh an der Innenseite meiner Oberschenkel wie ein Stoßdämpfer ausgleichen? So reite ich. Auf Kühen keinem Stück Land entgegen und als mir der Traum langsam entgleitet, sich verdünnt und im Tageslicht auflöst, fällt mir ein, dass diese Horde oben auf meinem Dach reiten muss. Das ist die Krönung. Ist die Lösung. Der Unsinn des großen Ganzen. Eine Herde Kühe im Galopp, dreihundert, vierhundert Tiere. Ich sehe einen Himmel über ihnen, viele Himmel. Unter ihnen den zitternden Beton des Flachdachs. Hier oben schaukelt die Welt und die Perspektive dreht sich. Dann sehe ich alles von vorne und verstehe, dass zweihunderttausend Kilo wuchtige Entschlossenheit auf mich zugaloppieren. Ich stehe da und sehe sie kommen. Als sei ich das Ziel.
Als sei man das Ziel.

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Sprechblasen aus Wärme und sanften Gedanken [ 32 ]

Es stresst Lohmann schon wieder. Weil alles ihn stresst. Lohmann ist chronisch unentspannt, er hat immer Angst, dass ihm jetzt etwas Schreckliches passieren wird.
“Was hast du vor?”
“Nichts Besonderes.”
“So viel hast du noch nie bestellt.”
“So viel hab ich noch nie gehabt, noch nie gebraucht, noch nie gekonnt.”
“Is alles in Ordnung bei dir?”
“Sehr. Alles ist viel klarer. Hab es endlich geblickt.”
“Schön. Wann? … Ich meine: Wann und wo treffen wir uns?”
“Sonntag. In meiner neuen Werkstatt. Bin umgezogen. Ich schick dir die Adresse.”
“Ok… äh… okay, ich bin jetzt da. Was jetzt?”
Lohmann ist so scheiße gestresst, dass er gar nichts schnallt. Er soll nur kurz in meinen Briefkasten gucken und mir sagen, ob ich Post habe, das ist alles. Er erwartet ein Sondereinsatzkommando, das ihn im Hausflur erschießt, weil er in der Zweiten mal ein Radiergummi geklaut hat.

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