Ode an [ 45 ]

Oh, kleine gute Stadt. Oh, glücklicher Ort, du heitere Welt, du goldenes Licht, du grünes, grünes Gras, du flaches Land, du Übersichtlichkeit, du Gartenzaun. Du Hecke, du Straße, du Biosupermarkt. Du Kinderwagen und freundlicher Nachbarschaftsgruß, du joggende Lebendigkeit. Du Nieselregen, du Fußballkneipe, du grüne Stadt. Du Kirchturm, du Reetdach, du kulturinteressiertes kleines Ding, du große Stadt mit dörflichem Charme, du Stadt gewordenes Dorf, du Fahrrad, du Gemüsekiste, du Grünkohl und Pinkel, du Gemüsesuppe und Kaffeekultur, du Friesentee und minimale Metropolregion, du niemals aus den Fugen geratene, du beschauliche, gemütliche, liebenswerte Stadt, du verwinkeltes Ding, du. Du Hort des Glücks, du freilaufende Kuh, du glückliches Huhn, du Biopastinake, du mit deinen vielen alten Höfen, machst mich ganz verlegen, wie du dich da unschuldig räkelst, oben im Norden, und dich uneitel im Nieselregen aufhältst. Weiterlesen

Eine ganz große Anwesenheit [ 46 ]

So vergingen die Tage. Eine ganze große Weile. Ich habe nichts davon gezählt, weil es um Zählen plötzlich nicht mehr ging. Es ging darum, zu verstehen, anzukommen, zu atmen, mich zu reinigen. Ich schlief bei Müdigkeit am Ufer meines kleinen Sees, ich aß bei Hunger, was ich eben fand, Insekten, Moos und Beeren, ich rannte, wenn die Beine wollten, wie ein Kind durch das Gestrüpp, ich sang, wenn etwas in mir wollte, laut wie ein Vogel am Morgen, ich turnte, lachte, schwieg und dachte nach. Ich war frei. Und fast vergaß ich, warum ich an diesem See saß und wartete. Das waren die Tage. Ich spürte. Mich. Hier. Unglaublich. Eine ganz große Anwesenheit. Und da sitze ich an diesem See, auf einem Grün, unter einem Blau, in einem Zwitschern und Rascheln und Gluckern und einem ganz leichten Wind. Und ich strecke mich aus, so voll von mir selbst, endlich, lege mich lang und flach in diese satte glückliche Welt, breite mich aus, fühle die warmen Strahlen auf meinem Leib, schließe die Augen.

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Das unglaubliche Spiel [ 47 ]

Rieke bleibt, wo sie ist. In Sicherheit. Während ich den Absprung vorbereite. Ich gleite durch den Garten wie auf Zehenspitzen, schleiche durch das Halbdunkel, schließe geräuschlos die Tür auf und doch: Plötzlich tritt Frauchen aus dem Schatten:
„Sie waren in meinem Zimmer.“
„Dacht ichs mir.“
„Was?“
„Dass sie Kameras haben.“
„Ich habe Sie gerochen. Nicht gesehen.“
„Dass ich nicht lache.“
„Es ist so.“
Frauchens Augen sind zusammengekniffen, Schlitze zum Münzeinwurf. Habe ich sie wirklich knacken können? Wütend machen? Habe ich Sand in ihr Getriebe gestreut? Sie aus dem Gleichgewicht gebracht? Dieses kleine Wesen aus Balance und Ruhe und Überlegenheit. Ich muss lächeln.
„Wollen Sie sagen, dass ich rieche?“
Ich muss grinsen, filmreifer Dialog. Es geht peng-peng, ich denke gar nicht, mein Mund klappt auf und zu, es redet aus mir. Weiterlesen

der Wert der Ebene [ 48 ]

Der Arzt drückt ein durchsichtiges Gel aus einer Tube auf den geschwollenen Bauch meiner Schwester und verreibt ihn mit einem kleinen Gerät, das aussieht wie eine Fernbedienung. Auf dem Monitor ist irgendwas zu sehen, so richtig zu erkennen ist es nicht, auch wenn der Arzt so tut als ob. Er nickt und brummt und seine Hand drückt auf einer kleinen Tastatur herum.
„Sie haben da ein sehr vitales kleines Ding“, sagt der Arzt mit seinem komischen, spitzen Mund, „daher scheinen ihre Schmerzen zu kommen. Kein Grund zur Sorge! Auch wenn die Aktivität erstaunlich ist, besonders zu diesem Zeitpunkt. Es sieht aus, als würde ihr Kind, naja“, er lacht so ein Streberlachen, so ein Es-ist-nicht-witzig-aber-ich-zeige-dass-das-ein-Witz-war-Lachen, „recht aufwändige – wie soll ich sagen? – Yoga-Übungen machen …“

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Das Innerste nach außen [ 49 ]

Achja: Dumpfback.
Dumpfback lag und schlief, Atem wie ein Hühnchen, roch nach Pisse, Gesichtsfarbe: Knödel. Ich saß im Schneidersitz bei ihm und zählte leise bis zweihundertfünfzig, dann wollte ich aufstehen und langsam davon gehen. Irgendwann würde irgendwer seinen kleinen dicken toten Körper finden, vergiftet und vielleicht inzwischen schon ein wenig angefault. An mich würde keiner denken, jemals. Der verfressene Dumpfback hatte eben Pilze in sein dummes Maul gestopft, hätten Mama und Papa Dumpfback eben besser aufgepasst… Ich wollte mir diesen Moment einspeichern in meinen Kopf, wie die Haut eine Verletzung in Form einer Narbe sichtbar erinnert. Hundertsiebenundvierzig, kamen Krähen, stritten oben in den Wipfeln. Ich dachte, dass sie vielleicht hier waren, Dumpfback abzuholen, sagte man das nicht? Dass Krähen Kinderseelen seien? Ich vergaß meine Zahlen und blickte nach oben. Fragte mich, was sie dort oben zu reden hatten. Es klang aufgeregt und wütend, aufgebracht und ein bisschen furchteinflößend. Dumpfback stöhnte leise. Sangen die Krähen ihm gerade die Seele aus der Brust? Schmerzte das? Ich legte ihm die flache Hand auf die kalte, nasse Stirn. Und Dumpfback öffnete die Augen, dick und weiß, zum Platzen gespannt. „Es geht los“, wisperte er. Ich nickte. Die Krähen riefen unsere Namen. „Ich kann es fühlen. Ich will unsichtbar sein und Feuer schießen.“ Und schwach wie ein ausgetrockneter Regenwurm, griff seine speckige Hand nach weiteren Pilzen. Er lächelte fahlgelb und schob sie sich in seinen blaubelippten Mund. Wahrscheinlich hat genau das ihm sein kleines Leben gerettet.

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