Ich franse ausreichend aus [ 30 ]

Es gibt eine Grenze.
Ich ziehe hier nicht ein. Ich lege meine Unterhosen und Socken nicht in den von Frauchen dafür vorgesehenen Schrank. Ich arbeite hier. Ich bin zu einem gewissen Grad gespannt auf Frauchens Projekt, aber ich ziehe hier nicht ein. Das hier ist nicht mein Privatleben, auch wenn Rieke es sich hier bequem gemacht hat. Frauchen hat ihr zweieinhalb Zimmer im obersten Stockwerk zugewiesen. Sie hat am Ende des Flurs ein eigenes Bad. Die Haushälterin kocht zwei Portionen mehr (ja, ich esse mit. Es ist praktisch. Und wirklich ausgezeichnet, aber deshalb ziehe ich noch lange nicht ein). Sie hat mir die Wohnung im Souterrain gezeigt. “Ihr Reich”, hat sie gesagt. “Mietfrei. Wird zwei Mal wöchentlich gereinigt.” Saubere Handtücher, Laken et cetera. Drei Zimmer, Flachbildfernseher, Doppelbett, Regenschauerdusche, Fußheizung. Nein.
“Sie sparen sich die Fahrerei.”
“Ich liebe die Fahrerei.”
“Sie verlieren Zeit. Kostbare Zeit. Sie haben so viel zu tun. Sie haben so große Träume.”
“Was wissen Sie von meinen Träumen.”
“Sie werden sehen.”
“Ich werde nicht einziehen.”
“Das habe ich nicht behauptet.”
“Dann ist es ja gut.”
“Noch nicht.”
“Was soll das?”
“Es ist noch nicht gut.”
“Was?”
“Überlegen Sie es sich.”

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Der Unsinn des großen Ganzen. [ 31 ]


Ich breite die Arme aus. Gleite. Die Augen geschlossen. Mein Becken bewegt sich vor und zurück, auf dem Kopf könnte ich einen Eimer Wasser balancieren, ich reite. Werde getragen. Rieche das Tier, spüre seine Bewegungen an der Innenseite meiner Schenkel, ich halte mich fest an dieser lebendigen Wärme. Keine Mähne, dafür Hörner. Ohren. Fühle so viele Muskeln. Es fällt mir nicht ein, zu lenken, ich komme nicht auf die Idee. Wohin auch?
Und als ich irgendwann die Augen öffne, sehe ich um mich herum: Krähen. Krähen auf Kühen, Krähen, die Kühe reiten. Eine Armee aus Kühen, im Galopp, die entschlossen auf ein Ziel zustürmt. Und auf jedem Kuhrücken eine Krähe, manchmal zwei – Reiter, Lenker, Kapitäne. Unter ihnen: Ich, mit ausgebreiteten Armen (oder waren es Flügel?). Mein Becken bewegt sich vor und zurück oder sind es die dünnen Beine einer Krähe, die die Bewegungen der warmen Kuh an der Innenseite meiner Oberschenkel wie ein Stoßdämpfer ausgleichen? So reite ich. Auf Kühen keinem Stück Land entgegen und als mir der Traum langsam entgleitet, sich verdünnt und im Tageslicht auflöst, fällt mir ein, dass diese Horde oben auf meinem Dach reiten muss. Das ist die Krönung. Ist die Lösung. Der Unsinn des großen Ganzen. Eine Herde Kühe im Galopp, dreihundert, vierhundert Tiere. Ich sehe einen Himmel über ihnen, viele Himmel. Unter ihnen den zitternden Beton des Flachdachs. Hier oben schaukelt die Welt und die Perspektive dreht sich. Dann sehe ich alles von vorne und verstehe, dass zweihunderttausend Kilo wuchtige Entschlossenheit auf mich zugaloppieren. Ich stehe da und sehe sie kommen. Als sei ich das Ziel.
Als sei man das Ziel.

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Sprechblasen aus Wärme und sanften Gedanken [ 32 ]

Es stresst Lohmann schon wieder. Weil alles ihn stresst. Lohmann ist chronisch unentspannt, er hat immer Angst, dass ihm jetzt etwas Schreckliches passieren wird.
“Was hast du vor?”
“Nichts Besonderes.”
“So viel hast du noch nie bestellt.”
“So viel hab ich noch nie gehabt, noch nie gebraucht, noch nie gekonnt.”
“Is alles in Ordnung bei dir?”
“Sehr. Alles ist viel klarer. Hab es endlich geblickt.”
“Schön. Wann? … Ich meine: Wann und wo treffen wir uns?”
“Sonntag. In meiner neuen Werkstatt. Bin umgezogen. Ich schick dir die Adresse.”
“Ok… äh… okay, ich bin jetzt da. Was jetzt?”
Lohmann ist so scheiße gestresst, dass er gar nichts schnallt. Er soll nur kurz in meinen Briefkasten gucken und mir sagen, ob ich Post habe, das ist alles. Er erwartet ein Sondereinsatzkommando, das ihn im Hausflur erschießt, weil er in der Zweiten mal ein Radiergummi geklaut hat.

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Lassen Sie sich gehen [ 33 ]

Drei Studenten und Frauchens Hausmeister Gruber helfen mir, mein Atelier (ja, so nenne ich es) einzurichten. Eine Firma hat in den letzten Tagen alle erforderlichen Anschlüsse gelegt, Gruber erledigt den Rest. Bohren, verkabeln, prüfen. Ein stiller Mann um die fünfzig, mit Blaumann, Schnurrbart und aschfarbener Haut. Seine ruhigen, sicheren Bewegungen erinnern mich an Frauchens Yoga-Übungen, die ich mir zuweilen ansehe.
Seit es so warm ist, machen Schwester und Frauchen ihre Turnübungen draußen. Strecken und Dehnen ihre Luxuskörper in engen Höschen. Frühmorgens, wenn der Tau noch über dem Park steht, ich habe es neulich gesehen, als ich gerade ins Bett gehen wollte. Sonst schlafe ich zu dieser Unzeit. Aber ich kam von der Vogeljagd, ein paar Tiere in der einen, das Luftgewehr in der anderen Hand überquerte ich die Wiese und guckte zufällig hinter der Bambushecke Richtung Spa-Bereich, da zog Rieke eine Tür der Glasfassade auf und glitt selbstbewusst in den Morgen. Ich stand wie ein Reh im Scheinwerferlicht, hinter Rieke schlüpfte Frauchen in den Morgen. Da standen sie, Matte unter den Arm geklemmt, eine Flasche Wasser in der Hand. Ich verschwand in meinem Atelier, lagerte eilig die Vögel. Mit Zigaretten, Rotwein und Klappstuhl setzte ich mich vor den Schuppen und sah dem Schauspiel zu. Wie Frauchen in Zeitlupe durch Raum und Zeit floss. Durch alle mir bekannten Dimensionen. In so absoluter Perfektion, es war die Definition von Konzentration, es war berauschend kontrolliert. Ich merkte, dass ich aufgestanden war, ohne es zu merken, als die runtergebrannte Kippe mir fast die Hand verbrannte. Ich flippte sie in den Busch, vor dem ich stand, prostete Frauchen mit der Weinflasche zu und trank. Meine Schwester als Statistin, und wenn sie Bikram höchstpersönlich wäre, Frauchen bewegte sich wie jemand, dem man nichts mehr beibringen konnte. Es war, als wehte sie in Superzeitlupe im Wind, irgendwie gelang es ihr, mit Konzentration die Gravitationskräfte anders ausreizen zu können als sich normal bewegende Menschen, ich hatte so etwas noch nie gesehen. War Rieke Publikum und gar nicht Lehrerin? Ich sah, wie Rieke irgendwas sagte, ihr Mund klappte auf und zu, vielleicht Anweisungen, Ideen, vielleicht der nächste Teil der Choreographie? Spornte Rieke sie an? Wie Frauchen hier stand und glühte, vor mir im Morgen, im Nebel, und die Terrasse zu einer Bühne machte. Sie war es, nicht ich und auch nicht Rieke. Sie war so vollkommen und genügsam, sie brauchte kein Publikum. Ich verstand nicht, was Riekes Rolle in diesem bemerkenswerten Schauspiel sein sollte.

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Da bin ich [ 34 ]

Fingerknöchel auf dem Blech meiner Werkstatttür. Riekes Klopfen. Wer sonst? Frauchen klopft nicht an und außer Gruber, der mich weithin ignoriert (so wie ich ihn), weiß niemand, dass ich hier bin. Lohmann kommt erst morgen. Ich stehe wie eingefroren, halte den Atem an. Eine Tasse mit Salzsäure auf meiner Brust. Ihr Klopfen. Dass sie es wirklich wagt.

„Loris?“, fragt sie vorsichtig. Ich muss lauschen, um sie überhaupt zu hören. „Bitte. Mach auf.“
Wenn ich aufmache, fresse ich sie auf. Walze sie um. Stoße sie weg.
Kochende, brodelnde Säure. Wenn es überkocht, schwappt es brennend in mich, frisst es sich ätzend bis ins Mark. Ich will die Tür aufreißen und sie am Nacken packen und zwei Mal, drei Mal scheppernd gegen das Metall schlagen. Dass sie es wagt, dieses dumme, nutzlose Mädchen.
Nur mein Atem. Kein Klopfen mehr. Stille. Weiterlesen