6. Auf nach Oldenburg: Was mich erwartet

Ich fahre nach Oldenburg. Wenn ich schon einmal ein Sparticket habe, warum nicht? In Wahrheit aber ist es die reine Angst, die mich zum Berliner Hauptbahnhof treibt. Wenn ich der Anweisung der Erftenmoder nicht folge, denke ich, wird sie nur wieder vor meiner Tür stehen, und das gilt es zu vermeiden.
Im Zug habe ich Zeit und Muße, weiter über die Erftenmoder nachzudenken. Warum ausgerechnet ich?, frage ich mich, und ich frage es mich mit einigem Unbehagen. Ich bin ja nie eine große Abenteurerin gewesen. Ich fürchte mich oft und reise nicht gern. Auf der anderen Seite liebe ich es, mir Horrorfilme anzuschauen, und vielleicht reicht das aus, um mich für unheimliche Abenteuer zu qualifizieren. Ich kenne zumindest die ein oder andere Verhaltensregel, habe eine grobe Vorstellung davon, was mich in Oldenburg erwarten wird. Ich bin eine junge, blonde Frau auf Reisen an einem fremden, möglicherweise verfluchten Ort. Es ist also wahrscheinlich, dass ich in absehbarer Zeit in einen Brunnen klettern, dass ich über einen Friedhof schleichen und ein Grab ausheben werde, nur um einen unerklärlicherweise leeren Sarg vorzufinden. Es ist außerdem wahrscheinlich, dass ich mir Zugang zu einem verlassenen Haus verschaffen muss, wo ich durch vermoderte Bretter in einen Keller einbrechen werde, dass ich in einer stürmischen Nacht in einer Kirche Zuflucht suchen will, aber noch auf dem Weg dorthin von einem umstürzenden Baum erschlagen werde. Auf all diese Dinge habe ich nicht unbedingt Lust, aber ich werde meiner Pflicht natürlich nachkommen. Um mich gut vorzubereiten, starre ich in die Zigarrenkiste der Erftenmoder und versuche, nicht an Hermann Holmer und seine exotischen Blumen zu denken.

7. Auf nach Oldenburg:
Wie die Dinge alle heißen, die nicht wahr und doch so schön sind

Kurz vor Detmold kommt mir eine Eingebung. Das mag an dem Nusshörnchen liegen, das ich gerade gegessen habe, oder an dem Dextro Energy, das ich lutsche. Ich weiß, was es mit der Nummer auf dem Zettel in der Zigarrenkiste auf sich hat. Ich weiß es so plötzlich und sicher, als hätte mir die Erftenmoder vertrauensvoll ins Ohr geflüstert. Schnell krame ich meinen Ebook-Reader hervor, rufe Strackerjan auf und scrolle bis zu Position 387. Dort heißt es:

Die Dichter waren die ersten, welche sich des verfolgten Aberglaubens annahmen und von manchem behaupteten, daß [sic!] er doch wenigstens poetisch wäre und ein Recht auf Dasein habe. Das ganze schöne Reich der Märchenwelt ist ja ein Reich des Aberglaubens, und wer nur z.B. die schönen Haus- und Kindermärchen der Gebrüder Grimm lesen und sich an ihnen freuen will, muß [sic!] seine Portion Aberglauben haben. Das soll heißen, er muß [sic!] poetisch glauben an Hexen und Nixen, an das Gespräch der Tiere und Bäume, an verzauberte Schlösser und verwünschte Prinzessinnen, an Meilenstiefel und gefeiete Schwerter und wie die Dinge alle heißen, die nicht wahr und doch so schön sind.
(Strackerjan, Ludwig, Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg. Altmünster: Jazzybee Verlag Jürgen Beck 2012, Position 387.)

 
Vor Aufregung bekomme ich Schnappatmung, und die Frau auf dem Sitz neben mir rückt leicht von mir ab. Das ist es! Ich bin Dichterin, und ich glaube ganz unbedingt poetisch an das Gespräch der Tiere und Bäume, an die Dinge, die nicht wahr und doch so schön sind. Ich nippe an meinem Bahn-Bistro-Kaffee, der auch nicht ganz von dieser Welt ist, und schließe die Augen, um in mich zu gehen. Ich bin die Dichterin auf den Spuren des Unheimlichen, Detektivin des Unglaublichen, Verfolgerin der Nixen und Hexen. Ich bin das und schon bald werde ich –
Mit einem Ruck kommt der Zug zum Stillstand. Eine Weile stehen wir, und wie immer, wenn ich in einem größeren Transportmittel sitze, das sich nicht bewegt, obwohl es das plangemäß sollte, werde ich sehr unruhig. Dann verkündet eine blecherne Stimme, dass sich Personen im Gleis befänden und sich unsere Weiterfahrt noch verzögere. Personen im Gleis, Personen im Gleis. Wie immer, wenn von Personen im Gleis die Rede ist, schaudere ich ein wenig. Ich weiß nicht, wie Menschen, die keine Dichter sind und nicht an das Gespräch der Tiere und Bäume glauben, darüber denken, aber ich sehe bei Personen im Gleis immer sehr flache, bleiche Geschöpfe vor mir, durchaus menschenähnliche Wesen, die sich unter den Gleisen entlangwurmen, um schon nach kurzer Zeit wieder im steinigen Untergrund zu verschwinden. Ihr ganzes Leben, vermute ich, verbringen diese Personen im Gleis, werden aber nur selten von wachsamen Autofahrern oder vielleicht Eisenbahnfotografen entdeckt.
Als wir endlich weiterfahren, vermeide ich es, aus dem Fenster zu sehen, und denke lieber weiter über Nixen und Bäume nach. Es ist nicht neu, aber immer wieder überraschend: Die Welt ist voller Unheimlichkeiten.

Ein Postskriptum:

Ich möchte alle Leser, die sich für das Thema „Personen im Gleis“ interessieren, ermutigen, einen kurzen Blick auf die informative Seite des ICE-Treffs zu werfen. Hier findet sich eine strukturelle Analyse, die das Problem von einer ganz anderen, weitaus weniger poetischen Seite beleuchtet, als ich es je könnte. Wer sich also auch schon einmal gefragt hat, ob Eisenbahnfotografen wirklich eine gefährdete Spezies sind, erhält hier vielleicht Antworten:
http://www.ice-treff.de/index.php?mode=thread&id=360831

8. Bei Siggi und Bruno

Weil die Erftenmoder kein Hotel für mich reserviert hat, werde ich bei Siggi und Bruno wohnen. Ich habe die beiden über eine website gefunden, die private Unterkünfte an Reisende vermittelt. Ist auch viel besser so, sage ich mir zuversichtlich, denn so komme ich in Kontakt mit den Menschen vor Ort, und das ist wichtig, wenn man wirklich etwas über eine Stadt erfahren will. Vielleicht können mir Siggi und Bruno Geschichten aus ihrer Kindheit erzählen, vielleicht haben sie Großmütter und Großväter, die noch mit der Erftenmoder zur Schule gegangen sind, vielleicht sind sie direkte Nachfahren Ludwig Strackerjans.

Siggi und Bruno wohnen in einer ruhigen, gepflegten Straße, was mich nicht weiter überrascht, denn in Oldenburg sind alle Straßen ruhig und gepflegt. So kommt das zumindest jemandem aus Berlin vor. Bei den Häusern in ihrer Straße handelt es sich ausschließlich um weiße, sanierte Altbauten, und wie sie so in Reih und Glied stehen, erinnern sie mich irgendwie an ein Gebiss.
Nachdem Siggi und Bruno mich hereingebeten haben, werde ich zum Ostfriesentee in die Küche eingeladen. Mit Dialekten kenne ich mich überhaupt nicht aus, muss ich hier kurz einräumen. Mein Freund ist Österreicher, und selbst das habe ich die ersten zwei Jahre nicht gemerkt, aber bei Siggi und Bruno fällt mir gleich auf, dass etwas nicht stimmt. Sie begrüßen mich zwar mit „Moin“, erkundigen sich dann aber: „Handse gut hergfunde?“

Beim Ostfriesentee eröffnen mir die beiden schließlich, dass sie aus dem Schwabenland kommen. Sie sind erst vor drei Jahren nach Oldenburg gezogen, weil es ihnen hier im Norden so gut gefällt und sie früher oft an die Nordsee gefahren sind. Direkt am Meer ist es ihnen aber zu windig und zu kalt. Über Oldenburg wissen sie eigentlich gar nichts. Sie können mir sagen, wo ich gute Pizza essen und wo ich günstig einkaufen kann, aber als ich sie nach dem Unheimlichen, dem Abwegigen, dem Geisterhaften befrage, da fällt ihnen nicht das Geringste ein. Immerhin, auf dem Weg in mein Zimmer begegnet mir eine schwarze Katze, die mich irgendwie drohend anmaunzt.

9. Sackgasse Friedhof

Von meinen Gastgebern kann ich mir also keine Hilfe erwarten. Alles, womit sie dienen können, sind Einkaufstipps und die Empfehlung, „nicht zu außerhäusig zu leben.“ In Ordnung. Hatte ich sowieso nicht vor.
„Haha, als Schriftstellerin muss man ja auch aufs Geld gucken“, sagt Bruno.
„Haha“, sage ich.
Immer, wenn Bruno „Schriftstellerin“ sagt, dann sagt er es so, als ob das Wort eigentlich in Anführungszeichen steht.
„Als ‚Schriftstellerin‘ interessieren Sie sich natürlich für die alten Geschichten“, sagt er zum Beispiel. Oder: „Als ‚Schriftstellerin‘ wollen Sie bestimmt wissen, wo hier die Bibliothek ist.“
„Eigentlich nicht, ich schaue eher fern“, sage ich, weil ich Bruno die „Schriftstellerin“ heimzahlen will, aber er lacht bloß und schwenkt seinen Zeigefinger, wie um mir zu zeigen, dass er meine Scherze erkennt. Oder um mich zu warnen.

Am Nachmittag rufe ich meinen Bekannten an und frage ihn, ob er mir vielleicht ein paar unheimliche Orte in Oldenburg zeigen kann.
„Was meinst du? Was denn für unheimliche Ort?“, fragt mein Bekannter. „Wir haben hier einen Kaufland, da könnten wir hingehen.“
„Nein, nein“, sage ich schnell. Mein Bekannter ist einer, der nicht glaubt an Hexen und Nixen, an das Gespräch der Tiere und der Bäume. „Ich meine eher so einen Ort, an dem dir vielleicht Geister erscheinen. Untote. Sprechende Tiere wären auch gut. So was in der Art.“
Mein Bekannter schlägt den Friedhof vor. Dann, sagt er, kann er mir auch gleich die Geschichte von der Gertrudenlinde erzählen. Die steht dort nämlich.

Wenig später laufen mein Bekannter und ich über den Friedhof. Es ist furchtbar hell und furchtbar heiß, und nachdem wir eine Weile zwischen den Gräbern herumgewandert sind, finden wir eines, das heraussticht. Auf dem Grabstein ist ein Totenkopf abgebildet, was sehr unheimlich und vielversprechend ist. Aber dann stehen wir eine halbe Stunde vor dem Grabstein und nichts passiert.
Überhaupt nichts.
Das Grab öffnet sich nicht und niemand kommt hervor.
„Na toll“, sage ich. „Und was machen wir jetzt?“
„Jetzt gehen wir zur Gertrudenlinde“, sagt mein Bekannter.