10. Im Schatten der Gertrudenlinde

Mein Bekannter und ich sitzen im Schatten der Getrudenlinde. Es ist furchtbar heiß und furchtbar hell, und ich blinzle die ganze Zeit. Dass man auf einem Friedhof auch schwitzen kann, finde ich irgendwie unangemessen. Auf Friedhöfen sollte man sich immer nur fröstelnd und durch dicke Nebelschwaden fortbewegen. Es sollte schneien oder zumindest regnen, wenn man über einen Friedhof schleicht. An diesem Nachmittag aber sind es 37 Grad im Schatten, und uns beiden ist sehr heiß.

Während wir uns diskret Schweiß von den Nasen tupfen, erzählt mir mein Bekannter die Geschichte der Gertrudenlinde. Vor vielen, vielen Jahren, erzählt mein Bekannter, wurde ein Waisenmädchen zu Unrecht des Diebstahls beschuldigt. Bei ihrer Hinrichtung steckte sie einen Zweig in den Boden und erklärte, dass sie unschuldig sei und ihre Unschuld bewiesen werde, wenn aus dem Zweig ein Baum erwachse. Sie wurde zwar hingerichtet, aber zumindest ihre Unschuld konnte dank der Linde, unter der wir jetzt sitzen, noch bewiesen werden. Ich denke darüber nach, ob das arme Waisenmädchen vielleicht auch eine Dichterin war und über das Gespräch der Tiere und ganz besonders der Bäume Bescheid wusste. Ich denke darüber nach, ob das dichtende Waisenmädchen vielleicht ein wenig zu außerhäusig gelebt hat und deswegen am Ende doch ihre ahnungslosen Arbeitgeber bestehlen musste.

Davon aber will mein Bekannter nichts wissen.

„Nein, nein, sie war unschuldig“, behauptet er, so als hätte ich seine Ehre verletzt und nicht die des dichtenden Waisenmädchens.

„Mir ist so was Ähnliches auch mal passiert“, sage ich.

Mein Bekannter schaut mich verwundert an. „Wie?“, fragt er. „Was?“

„Na, letztes Jahr, da hatte irgendwer bei uns im Treppenhaus eine Bierflasche fallen lassen. Im zweiten Stock, also genau vor unserer Wohnungstür. Und meine Nachbarin dachte, ich sei es gewesen. Aber ich war es nicht.“

„Aha“, sagt mein Bekannter unsicher. „Und dann?“

„Na, ich habe meine Unschuld versichert. Also beteuert, dass ich es nicht war“, sage ich, und meine Stimme wird ein wenig brüchig, und ich fühle mich wie ein dichtendes Waisenmädchen. „Mir hat keiner geglaubt, und ich habe die Scherben trotzdem wegfegen müssen. Obwohl ich unschuldig war.“

„Na, das ist jetzt aber nicht ganz das Gleiche“, sagt mein Bekannter.

„Habe ich ja auch nicht behauptet, dass es das Gleiche ist“, schnappe ich. „Ich habe gesagt, dass mir etwas Ähnliches passiert ist.“

Wir schweigen. Die Stimmung ist auf dem Tiefpunkt. Was, wenn mir hier in Oldenburg überhaupt nichts Unheimliches mehr passiert? Was, wenn das Unheimliche bereits passiert ist, und ich es schlicht nicht bemerkt habe? Außerdem ist mir natürlich klar, dass mein Bekannter recht hat. Meine Geschichte ist überhaupt nicht zu vergleichen mit dem tragischen Schicksal des unschuldigen Waisenmädchens. Die Zeit der Abenteuer ist vorbei. Wie soll man heute noch Schriftstellerin sein? Von welchen fantastischen, unglaublichen, tragischen, mitreißenden, außergewöhnlichen Begebenheiten soll man erzählen, wenn einem nichts Aufregenderes im Leben passiert, als dass man die Scherben einer Bierflasche, die man gar nicht selbst zerbrochen hat, zusammenfegen muss?

Intervall

Poetologische Überlegungen, die weniger mit Oldenburg zu tun haben, dafür aber umso mehr mit Fragen des Schriftstellertums und Erzählens im Allgemeinen

Abends liege ich lange wach, lausche Siggi und Bruno, die im Wohnzimmer UNO spielen, und denke nach. Ich weiß nicht weiter. Ich will hier eine Geschichte über und aus Oldenburg erzählen, eine Geschichte, welche es mit der Dramatik des dichtenden Waisenmädchens aufnehmen kann. Ich will von Nixen und Hexen erzählen und von den Geistern, die sich aus den totenkopfbesetzten Gräbern erheben. Aber vielleicht bin ich schlicht zu spät dran für diese Art Geschichten, vielleicht widerfahren uns die großen, unheimlichen Abenteuer nun einmal nicht mehr, weder in Oldenburg noch sonstwo. Vielleicht lässt sich nur noch erzählen, dass wir kürzlich traurig durch die Straßen Kreuzbergs oder Friedrichhains gingen, grüblerisch an unserem Superfood knabberten, bedauerten, dass wir den Glauben an die Liebe, die Zukunft, den Sinn des Lebens verloren hatten, und die Clubs, in denen wir einmal Getrudenlinden-ähnliche Abenteuer erlebt hatten, nun geschlossen worden waren, um Platz für neue Bioläden zu machen, in denen wir von nun an unser Superfood kaufen würden, um abends grüblerisch daran zu knabbern. Schluss mit Geistern, Nixen, Hexen, Untoten; Schluss mit sprechenden Katzen, Schluss mit Schlössern und Verließen, Schluss mit Wesen, halb Mensch, halb Pilz, die im Sumpf leben und nur bei Nacht hervorkommen, um durch die Straßen der verschlafenen Städte zu schleichen; Schluss mit Morden, Diebstählen, Hinrichtungen. Bloß noch Superfood, Gentrifizierung und das Nachdenken über Hipster und glutenfreies Abendessen, steigende Mieten und hyperaktive Kinder.
Aber über nichts davon würde ich schreiben wollen, weder als Stadtschreiberin noch in sonst einer Funktion.
Bleibt mir also nur zu tun, was ich immer getan habe in Momenten wie diesen: Still in meinem Bett zu liegen, in die Dunkelheit zu lauschen, auf den Schlaf zu warten und auf die Träume und das erste Rascheln, das unerklärliche Knarren der Schranktüren und die sonderbaren Bewegungen in den Schatten neben dem knarrenden Schrank.

11. Spuknester und fortschreitende Bodenkultur

Ich will nicht lügen, ich bin entmutigt. Um genau zu sein: Im Grunde habe ich schon aufgegeben. Die Sache mit der Getrudenlinde hat mir den Wind aus den Segeln genommen, und das ist hier im Norden besonders schlecht. Vielleicht fahre ich einfach wieder nach Hause, denke ich, nachdem ich ausgiebig mit Siggi und Bruno gefrühstückt habe. Bringt doch alles nichts.
Doch dann, gerade als ich beschlossen habe, Oldenburg den Rücken zu kehren und mir von hieran für meine Arbeit als virtuelle Stadtschreiberin einfach Sachen auszudenken, passieren zwei Dinge.
Ich bekomme Post.
Und einen Anruf.

„Post“, ruft Siggi am späten Nachmittag, und weil ich mich nicht angesprochen fühle, bleibe ich auf der Couch in meinem Zimmer liegen und schaue mir die sechste Folge von „Stranger Things“ auf Netflix an. Die ersten fünf habe ich mir den Vormittag über geschaut.
„Post!“, ruft Siggi, und weil ich mich nicht angesprochen fühle, bleibe ich auf der Couch in meinem Zimmer liegen und esse weiter Gummi-Bärchen.
„Post“, ruft Siggi. „Frau Hartwell!“, fügt sie hinzu.
Ich stehe auf und komme die Treppe herunter.
„Post für mich? Aber es weiß doch niemand, dass ich hier wohne.“
Siggi zuckt die Achseln. „Aufregend, nicht? Da können sie doch mal eine Geschichte drüber schreiben.“
„Eine Geschichte über jemanden, der irgendwo ist, wo er nicht wohnt, und Post bekommt?“
„Ja!“, sagt Siggi und freut sich und gibt mir einen schlichten weißen Umschlag.

In meinem Zimmer setze ich mich auf die Couch. Ich lasse „Stranger Things“ laufen und das Alien nicht aus dem Auge, während ich den Umschlag öffne. Darin ist ein weißes Blatt, auf dem steht:

Manche Sümpfe waren oftmals wahre Spuknester. Die fortschreitende Bodenkultur hat die Tümpel und Wasserlöcher beseitigt und damit die mit denselben in Verbindung gebrachten Spukgeschichten. 

(Strackerjan, Ludwig, Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg. Jazzybee Verlag Jürgen Beck: Altmünster, 2012, Position 334)

Toll, mit Quellenangabe, denke ich. Und dann wundere ich mich aber doch ein wenig. Wer schickt mir denn ein Strackerjan-Zitat einfach so? Ich drehe den Umschlag um und lese auf der Rückseite:

Erftenmoder
Oldenburg

Spuknester und fortschreitende Bodenkultur also, da muss ich nun erst mal eine Weile drüber nachdenken, aber im selben Augenblick klingelt mein Telefon. Es ist mein Bekannter.
„Ich habe eine neue Spur für dich“, sagt er, während nur wenige Schritte von mir entfernt das Alien, das wie eine fleischfressende Pflanze aussieht, über den Bildschirm stakst.
„Eine Spur?“, frage ich.
„Eine Spur“, sagt mein Bekannter.

12. Der Informant

Mein Bekannter behauptet am Telefon, dass ihn ein Informant kontaktiert habe. Der habe erfahren – durch seine aufmerksame Lektüre des Blogbuchs Oldenburg, um genau zu sein – dass eine Autorin in der Stadt sei, eine Autorin, auf der (vergeblichen) Suche nach dem Unheimlichen. Bei seiner Lektüre habe er den Eindruck gewonnen, die Autorin stelle sich auf ihrer Suche nach dem Unheimlichen etwas ungeschickt an, dass ihre Versuche, den dunklen Geheimnissen Oldenburgs auf den Grund zu gehen, aus reiner Nachlässigkeit, um nicht zu sagen Unfähigkeit, gescheitert seien. Die Stadt sei ja randvoll mit allerlei Unheimlichkeiten. Man müsse nur, habe der Informant meinem Bekannten anvertraut, nachts einmal entlang der Haaren laufen, und schon stolpere man über sprechende Fische, betrunkene Flussgeister und allerlei andere zweifelhafte Geschöpfe. Er selbst sei dort einmal einer schwebenden Nonne über den Weg gelaufen, die man übrigens nahe des Heiligengeistwalls im Übrigen ganz regelmäßig anzutreffen pflege.

„Wann können wir den treffen?“, frage ich meinen Bekannten.

Noch am selben Nachmittag machen wir uns auf den Weg zu dem Informanten.
Schon auf dem Weg dorthin erfahre ich, dass es sich bei dem Informanten um einen Studenten handelt.
Das gefällt mir nicht. Ich hatte mir zumindest einen Professor vorgestellt, einen greisen Gelehrten, der uns, gekleidet in einen rautenlastigen Pullunder und mit Pfeife im Mundwinkel, empfangen würde, nur um uns in sein staubiges Arbeitszimmer voller kostbarer, doch fleckiger Bücher zu führen und uns dort, umhüllt von Pfeifenrauch, seine Geheimnisse anzuvertrauen.
Stattdessen fahren wir bloß in ein Studentenwohnheim, direkt neben dem BAföG-Amt.
Studenten gegenüber habe ich Gefühle der Missgunst und des Neides, seitdem ich selbst keiner mehr bin, und so trotte ich schlecht gelaunt hinter meinem Bekannten die Straße hinunter.
„Das führt überhaupt nirgendwohin“, prophezeie ich. „Am Ende wird er uns nur zwingen, Bier mit ihm zu trinken und Foucault zu diskutieren.“
„Wart’s doch erst mal ab“, empfiehlt mein Bekannter. Aber wenn ich eines noch nie gut konnte, dann ist das abwarten.

13. Dream Big!

Der Student wartet vor dem Wohnheim auf uns. Er führt uns in sein Zimmer, das ganz genauso aussieht, wie man sich so eine Studentenbehausung immer vorstellt. Auf dem Schreibtisch liegt ein Zentangle Ausmal-Buch zum Relaxen, und auf der Fensterbank stehen zwei Orchideen und ein Raumduft-Diffuser. Über seinem Bett hat der Student ein motivierendes Poster aufgehängt, auf dem steht: Dream Big. Darauf zu sehen ist ein Vogel, der majestätisch durch einen blauen Himmel gleitet, und – wahrscheinlich – große Träume hat. Einen Moment betrachten wir drei, der Student, mein Bekannter und ich, ganz versonnen den blauen Himmel und verlieren uns in unseren eigenen großen Träumen.

„Seerose“, sagt der Student stolz, als ich ihn nach dem angegnehmen Duft frage.
„Toll“, sage ich. Und: „Dann legen Sie mal los. Sie wissen ja anscheinend irgendwas.“
Der Student will uns aber lieber erst einmal einen Rooibos-Vanille-Tee machen.
„Aber ich bleibe in dem Ganzen anonym?“, versichert er sich, während er heißes Wasser aufgießt. „Ich meine, Sie werden mich nicht mit Namen erwähnen?“
Ich verspreche dem Studenten, dass er anonym bleiben wird, und er wirkt erleichtert.
„Also“, sagt er. „Es geht um die Haarenniederungen, das Biotop hinter der Uni.“
Dann fällt der Student in einen angestrengten und anstrengenden Flüsterton. Er erzählt mir, dass ein paar der Studenten etwas im Biotop bemerkt hätten. Während sie da so gemütlich im Gras gesessen und an ihrem Biozisch Rhabarber genippt hätten, sei ihnen so eine Art Heulen aufgefallen, so eine Art Wimmern, vielleicht auch ein Schreien in großer Ferne. Sein Ursprung jedenfalls habe irgendwo im undurchsichtigen Grün gelegen. Keiner von ihnen habe sich getraut, den Lauten auf die Spur zu gehen. Man habe zwar wachsam in die Sträuche und Büsche und Bäume geblinzelt, sich aber nicht wirklich näher herangewagt. Besonders während der Dämmerung und in den frühen Abendstunden sei das Schreien zu hören gewesen.
„Und gibt es dort zufällig auch ein Spuknest?“, frage ich.
Der Student sieht mich verständnislos an.
„Ich meine, einen Tümpel, oder einen Bach, etwas in der Art?“
Der Student bejaht. Tatsächlich gäbe es dort einen kleinen Bach, einen Seitenarm der Haaren.
„Dann müssen wir dorthin!“, sage ich zu meinem Bekannten.
Mein Bekannter nippt bedächtig an seinem Rooibos-Vanille Tee. „Es klingt ein wenig gefährlich“, gibt er zu bedenken.
„Genau deswegen“, sage ich.
Und so ward es entschieden.