14. Das schreiend Ding (1)

Bis wir unseren Rooibos-Tee getrunken haben, ist es schon dunkel, und weil wir es mit der Gefährlichkeit nicht gleich übertreiben wollen, verschieben wir unseren Ausflug in die Haarenniederungen auf den nächsten Tag.

Als ich abends in meine Unterkunft zurückkehre, erzählt Siggi mir, dass eine sehr nette Frau da gewesen sei und mit mir habe sprechen wollen.

„Eine sehr nette Frau?“, frage ich.

„Vielleicht Ihre Mutter?“, mutmaßt Siggi.

Sie hätten zusammen Ostfriesentee getrunken und sich über mich unterhalten. Die nette Frau sei sehr besorgt gewesen um mich, habe sich erkundigt, was ich so triebe, ob ich viel unterwegs sei und die Geschichte Oldenburgs angemessen studierte.

Meiner Mutter ist eigentlich egal, ob ich viel unterwegs bin und die Geschichte Oldenburgs angemessen studiere. Die einzige Anforderung, die sie an mich und meine Lebensgestaltung stellt, ist, dass ich nicht den ganzen Tag herumliege und Gummibärchen esse. Des Weiteren würde es mich überraschen, meine Mutter in Oldenburg anzutreffen. Auch wenn sie mir einmal, das ist nun schon ein wenig her, nach Stockstadt am Rhein nachgereist ist – aber nur, weil ich sie darum gebeten hatte und aus einer berufsbedingten Notsituation befreit werden musste.

„Wie sah sie denn aus, meine Mutter?“, frage ich Siggi.

„Gute Figur“, sagt Siggi. „Ein wenig blass vielleicht?“

„Trug sie ein irgendwie viktorianisch anmutendes Kleid und hatte erbsengrüne Augen?“, frage ich.

„Ja, ganz genau!“, sagt Siggi. Und dann eröffnet sie mir noch, dass die Frau, die vermeintlich meine Mutter, in Wahrheit aber bloß die Erftenmoder, gewesen ist, etwas für mich dagelassen habe. Ein Buch.

Siggi überreicht mir das Buch, aus dem ein orangefarbener Post-It hervorschaut. Die Erftenmoder will nun anscheinend sichergehen, dass ich meine Sache ordentlich mache, und hilft ein wenig nach.

Ich erzähle Siggi von meinem Besuch bei dem Studenten, der anonym bleiben möchte. Über die unheimlichen Vorgänge in den Haarenniederungen schweige ich mich aus, aber ich berichte von dem guten Rooibos-Tee und dem Seerosen-Raumduft.

„Na so was, da könnten sie doch mal eine Geschichte drüber schreiben!“, sagt Siggi.

„Über einen Studenten, der Rooibos-Tee trinkt?“, frage ich.

„Ja!“, sagt Siggi.

„Oder vielleicht gleich lieber einen Roman“, sage ich.

„Na, mir würde dazu kein Roman einfallen. Aber ich bin ja auch keine Schriftstellerin“, sagt Siggi, und dann lächeln wir beide.

 

In meinem Zimmer mache ich mir erst einmal eine Tüte Gummibärchen auf und besehe mir das Buch, das die Erftenmoder für mich abgegeben hat, genauer. Es ist randvoll mit unheimlichen regionalen Geschichten. Ich schlage die Seite auf, die mir die Erftenmoder bereits mit einem orangefarbenen Post-It markiert hat. Damit keinerlei Missverständnisse möglich sind, hat sie hinter die entscheidende Geschichte auch gleich einen grünen Punkt gesetzt.

Ich fange an zu lesen.

15. Das schreiend Ding (2)

 

Die Geschichte des schreiend Dings ist – ähnlich wie die des Waisenmädchens – die Geschichte eines Unrechts. Und wieder geht es hier um mehr als bloß um eine zersprungene Bierflasche. In dieser Geschichte begegnen wir einem habsüchtigen Wirt, der einem seiner unglücklichen Reisenden geschmolzenes Blei in den Hals kippt. Als man den Wirt des Verbrechens überführt, beteuert dieser, den Reisenden keinesfalls umgebracht zu haben. Ähnlich wie das Waisenmädchen versichert er, dass Gott ihm schon Recht geben werde, und verkündet, sollte er doch schuldig gewesen sein, werde er für den Rest seines Lebens als schreiend Ding durchs Land spuken zu müssen. Als der niederträchtige Wirt schließlich wenig später stirbt, erfüllt sich seine Prophezeiung:

Kaum aber hatte er die Augen geschlossen, so ging er wieder und zwar als „schreiend Ding“. Das schrie nun bald hier und bald dort in Schmers Hause, auf der Landstraße, auf dem Fußpfade, auf dem Rockenmoor,, in der Heide und oft so laut, daß die Bleifenster, vor welchem er gerade schrie, davon klirrten.

(Sagen, Märchen und Legenden aus dem Oldenburger Land, gesammelt von Helge Dettmer. Exclusiv Ausgabe der Nordwest Zeitung. Phönix Werbung und Verlag, Radolfzell, 1987, S. 131)

Das muss ich erst einmal sacken lassen. Was genau habe ich mir unter einem schreiend Ding vorzustellen? Nichts Gutes, das steht fest. Mit dem Begriff „Ding“ ist es wahrscheinlich ähnlich wie mit dem Begriff „Monster“. Er scheint so unheilkündend, so unheimlich, gerade wegen seiner Ungenauigkeit. Ein Ding, mehr noch als ein Monster könnte alles mögliche sein. Ein laufendes Klavier, ein schleimiger Blob, ein flimmernder Umriss, ein Geschöpf irgendwo zwischen Tier, Geist, Einrichtungsgegenstand.
Nun, zumindest kann man dieses spezielle Ding daran erkennen, dass es schreit.
Ich erinnere mich an die Worte des Studenten, die Andeutungen, das Gemunkel, und mir wird ein wenig unheimlich. Um mich abzulenken, schaue ich mir eine Folge „Stranger Things“ an, in der das Alien, das wie eine fleischfressende Pflanze aussieht, ein Mädchen durch eine Art schleimigen Wald jagt. Das Alien schreit zumindest nicht, und macht auch sonst eigentlich keine Geräusche.

16. Das schreiend Ding (3)

Wir haben uns mit dem Studenten vor der Cafeteria der Universität verabredet. Auch an diesem Tag ist es heiß, jahresuntypisch heiß. Ich halte es für möglich, dass das etwas mit der Klimaerwärmung zu tun hat, bin mir aber nicht sicher. Irgendwo habe ich gelesen, dass Klimaerwärmung hier in unseren Breitengraden genau das Gegenteil von dem bedeutet, was man annehmen würde: Kälte, nicht Wärme. Wie auch immer: Obwohl der Herbst vor der Tür steht und wir hier ja eher im Norden des Landes sind, wollen die Temperaturen nicht fallen, im Gegenteil.
Der Student hat vorgesorgt und für uns in der Cafeteria drei Flaschen Biozisch gekauft. Rhabarber. Ich mag Rhabarber-Schorle nicht, ich mag Rhabarber so wenig wie Erbsen, aber der Student hat uns schließlich einen Gefallen tun wollen, und so nippe ich anerkennend lächelnd an meiner Rhabarberschorle.
Genug Zeit verschwendet, das Unheimliche wartet auf niemanden. Wir durchqueren das Unigebäude, lassen uns auf der anderen Seite von Sonne und Hitze begrüßen und betreten die Haarenniederungen. Der Student führt uns zunächst einen schmalen Pfad entlang. Kaum, dass wir den Pfad betreten haben, bemerke ich, dass sich die Hitze verflüchtigt zu haben scheint. Hier in all dem Grün kommt es mir kühler vor. Das mag mit dem Wasser zu tun haben oder mit etwas anderem, das ich noch nicht verstehe.
Eine Weile laufen wir stumm entlang der Haaren. Ich spitze die Ohren und lausche auf mögliches Heulen, Wimmern, Jaulen oder Schreien, aber es ist sehr still, nur in der Ferne hört man die Studenten, die lachen und Biozisch trinken und über die Geschehnisse in der Welt diskutieren und über Foucault und über das Essen in der Mensa.
Das Wasser der Haaren scheint auffällig dunkel, suppig und irgendwie schwarz. Da fallen mir die Reagenzgläser wieder ein, die mir die Erftenmoder in Herman Holmers Zigarrenkiste hat zukommen lassen. Eines davon war mit schwarzem Wasser gefüllt, erinnere ich mich, das andere mit grünem. Bin ich wohlmöglich auf einer Spur?

17. Das schreiend Ding (4)


Detektive müssen ans Warten gewöhnt sein. Tatsächliche genauso wie virtuelle. Der Student, der Bekannte und ich setzen uns eine Weile ins Gras. Es ist so heiß und ich bin so durstig, dass ich irgendwann anfange, von meiner Rhabarber Schorle zu trinken.

Nichts passiert.
Das heißt irgendwo in der Welt passiert natürlich schon etwas. Immerzu passen ja irgendwo irgendwelche Dinge, aber hier im Biotop, in Oldenburg passiert nichts.
Der Vormittag geht in den Mittag über und der Mittag in den Nachmittag und immer noch nichts. Auf meinem Handy lese ich einen Wikipedia Eintrag über die Haaren, in dem ich viele kritische Untertöne bemerke, die ich mir aber auch nicht näher erklären kann.
„Das gesamte Gewässersystem der Haaren stellt sich heute sehr wenig naturnah und strukturell stark überformt dar“, heißt es etwa. (Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Haaren_(Fluss), 03.01.2017)
Wenig naturnah und stark überformt. Klingt unfreundlich, finde ich, unnötig vorwurfsvoll, finde ich. Ich zumindest fühle mich sehr naturnah, wie ich so am schwarzen Wasser sitze und auf das schreiend Ding warte. Ich lese weiter.
„Das faunistische Artenspektrum im Stadtgebiet von Oldenburg ist gering, ökologisch wenig anspruchsvoll und kaum bedeutsam.“ (Wikipedia. https://de.wikipedia.org/wiki/Haaren_(Fluss), 03.01.2017)
Harsch, finde ich. Aber jeder weiß, dass man sein Wissen über die Welt nicht allein von Wikipedia beziehen sollte, und deswegen beschließe ich, meine Ohren und Augen weiter offen zu halten.
Wenn man nur lange genug ins schwarze Wasser der Haaren schaut, wird man irgendwann schläfrig. Wir dösen vor uns hin, bis mein Bekannter plötzlich den Kopf hebt. Ihn ein wenig schräg legt, hinüber zur Haaren sieht und dann wieder zu uns.
„Hört ihr das auch?“, fragt er.
Und ich will gerade den Kopf schütteln, als ich tatsächlich etwas höre.
Kein Schreien, das nicht, auch nicht unbedingt ein Heulen. Eher eine Art Summen. Es summt, als schwebe da ein gewaltiges Insekt durch die Büsche. Der Student, der Bekannte und ich springen auf. Uns ist ganz plötzlich mulmig zumute, und erst jetzt, viel zu spät, bemerken wir, dass der Himmel sich bereits dämmrig grau gefärbt hat. Nicht mehr nur das Wasser der Haaren ist dunkel, auch in den Himmel hat sich bereits ein wenig Nacht geschlichen.

18. Das schreiend Ding (5)

Gebannt warten der Student, der Bekannte und ich, während das Summen allmählich näher kommt. Irgendwo aus dem grünsten Grün bahnt sich da etwas seinen Weg auf uns zu, und mit einem Mal habe ich überhaupt kein Interesse mehr am schreiend Ding, mit einem Mal will ich nicht mehr wissen, was genau ich mir unter einem schreiend Ding so alles vorstellen kann. Mein Mund ist trocken, der unangenehme Geschmack von Rhabarber liegt mir auf der Zunge, und ich weiß, dass ich gleich mehrere Fehler auf einmal gemacht habe. Warum habe ich von dem Biozisch getrunken, warum mich auf meinen Bekannten verlassen, warum einem Studenten vertraut?
Und genau in dem Moment kommt es um die Ecke. Das schreiend Ding, das überhaupt kein schreiend Ding ist. Sondern bloß ein Mann auf einem motorisierten Gefährt. Er trägt einen grünen Arbeitsoverall und das Haar klebt ihm verschwitzt auf der Stirn, und als er uns sieht, da hält er an. Ruft uns etwas zu. Ich habe keine Ahnung, was. Für mich klingt es irgendwie Schwäbisch, aber mir ist klar, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass der Mann auf dem motorisierten Gefährt, der kein schreiend Ding ist, schwäbisch spricht.
„Moin!“, rufe ich zurück. Damit kann ich ja hier nicht falsch liegen.
Im gleichen Augenblick ruft der Student zurück.
Aber nun spricht auch der Student, den ich bisher immer ohne Probleme habe verstehen können, mit einem Mal sonderbar verschliffen, wie ein Betrunkener.
Ich trete dichter an den Studenten heran und flüstere ihm zu: „Frag ihn, ob er das schreiend Ding gesehen hat.“
Der Student übersetzt, und der Mann auf dem motorisierten Gefährt schüttelt den Kopf, was selbst ich verstehe.
„Frag ihn, ob er irgendwelche Auffälligkeiten im faunistischen Artenspektrum bemerkt hat“, flüstere ich dem Studenten zu.
Der Student wiederholt die Frage, und dieses Mal gerät der Mann auf dem motorisierten Gefährt ins Grübeln.
Schließlich nickt er zögernd.