19. Die Geschichte des Mannes auf dem motorisierten Gefährt

„Es trug sich einmal zu“, sagt der Mann auf dem motorisierten Gefährt (laut dem Student), „dass ich mich eines Abends hier unten an der Haaren wieder fand, um fischen zu gehen.“

„Hier kann man fischen?“, frage ich.

„Ja“, sagt der Mann auf dem motorisierten Gefährt (laut dem Student), „aber wenn man was richtig Gutes an die Angel bekommen will, dann muss man abends oder nachts kommen.“

„Ach“, sage ich, „interessant, ich hatte gehört, dass faunistische Artenspektrum sei gering, ökologisch wenig anspruchsvoll und kaum bedeutsam!“

Der Mann auf dem motorisierten Gefährt wirft mir einen ungehaltenen Blick zu und fragt, ob ich die Geschichte nun hören wolle oder nicht.

„Doch sicher, solange sie unheimlich ist!“

„Es trug sich also einmal zu“, beginnt der Mann auf dem motorisierten Gefährt (laut dem Student) ein weiteres Mal, „dass ich eines Abends hier unten fischen ging. Meine Familie war hungrig, sie hatten seit vielen Tagen nichts gegessen und saßen um den Küchentisch und waren blass und schwach. Ein Fisch musste her, nicht irgendein Fisch, ein Fisch, der uns durch den harten Winter und auch noch das nächste Frühjahr bringen würde.“

Ich will nicht durch weitere Einwände provozieren und habe auch nichts zu sagen, also schweige ich.

„Das Glück war mir hold, denn nur wenige Stunden verstrichen, bevor ich kurz vor Morgengrauen einen Hecht aus den dunklen Fluten der Haaren zog. Nun hatte der Fisch zwar nur ein Auge, doch war er ein stattlicher Bursche, und so trat ich zufrieden den Heimweg an. Doch mit jedem Schritt drückte mir das Gewicht des Hechtes schwerer und schwerer auf meinen Schultern. Der Schweiß stand mir auf der Stirn, mein alter Rücken bog sich krumm und kurz bevor ich den Biomarkt gleich bei der Universität erreichte, bemerkte ich, dass der Fisch sich über meine Schulter gebeugt hatte und mich anstarrte mit einem Auge voller Vorwurf und Misstrauen.

Wat wulltu mit mi maken,

Wulltu mi braden oder kaken?[1]

fragte der Fisch mit dem einen Auge, und da blieb mir nichts anderes als ihn schnell wieder zurück in das schwarze Gewässer zu bringen, das ihn hervorgebracht hatte, denn wenn auch meine Familie hungrig und der Winter lang sein mochte, hatten wir doch vor vielen Jahren beschlossen, nichts zu essen, was uns Fragen stellen kann.“

Postskriptum: Auch an dieser Geschichte ist alles wahr. Lediglich das Setting musste aus organisatorischen Gründen geändert werden. Nachzulesen ist dies alles und noch viel mehr in der Geschichte: „Verzauberte Fische im Sager Meer“.

[1] Verzauberte Fische im Sager Meer“, zu finden in: Sagen, Märchen und Legenden aus dem Oldenburger Land, gesammelt von Helge Dettmer. Exclusiv Ausgabe der Nordwest Zeitung. Phönix Werbung und Verlag, Radolfzell, 1987, S. 37

20. Träumen von Herman Holmer (2)

Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich mich in einer Sackgasse wiederfinde, nicht weiter weiß, mich fühle, als hätte ich den einäugigen Fisch gefangen, der mich durch den Winter bringen soll, nur um ihn dann doch wieder in die Freiheit entlassen zu müssen. Der Mann auf dem motorisierten Gefährt mag mich überzeugt haben, dass das faunistische Artenspektrum hier in Oldenburg alles andere als eintönig ist, aber das hat uns auf unserer Suche nach dem schreiend Ding nicht weiter gebracht. Es ist an der Zeit, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass wir dem schreiend Ding so schnell nicht begegnen werden, ja, dass es womöglich überhaupt kein schreiend Ding gibt.

Der Student schlägt vor, gleich am nächsten Nachmittag noch einmal in die Haarenniederung zurückzukehren und weiter nach dem schreiend Ding zu suchen, aber das geht so nicht, ich kann schlecht jeden Nachmittag im Gras sitzen, Rhabarberschorle trinken und auf das schreiend Ding lauern, solche Sachen macht man, wenn man Student ist, ich aber brauche Ergebnisse.
Abends bei Siggi und Bruno liege ich in meinem Bett, esse Gummibärchen und döse entmutigt vor mich hin, als mir plötzlich der Zigarrenhändler Hermann Holmer erscheint. Ein schwerer, blumiger Duft geht von ihm aus und umhüllt uns beide.
„Hast du mich ganz durchschaut?“, fragt Herman Holmer.
„Nein, ich kenne Sie ja gar nicht“, sage ich.
„Hast du bis auf den Grund der Dinge gesehen, bis in jeden staubigen Winkel?“
Ich zucke die Achseln, ich betrachte Herman Holmer genau. Wächst da eine Blume aus seinem rechten Ohr, recken sich da purpurrote Blütenblätter aus den dunklen Gängen in Herman Holmers Schädel der Welt entgegen?
„Es ist das andere“, sagt Herman Holmer, und dann pflückt er die Blume aus seinem Ohr, und die Blume ist keine Blume, sondern eine Zigarre, und Herman Holmer, Zigarrenhändler aus Oldenburg, nimmt einen tiefen Zug und bläst den Rauch ins Zimmer, und der Rauch breitet sich aus und umhüllt uns wie schon zuvor der schwere Blumenduft, und dann sinke ich aus dem Traum in die Dunkelheit der Oldenburger Nacht.

21. Ein Mann wächst über sich hinaus

Es ist das andere.
Herman Holmers Worte verfolgen mich durch die Nacht und bis weit in den nächsten Tag hinein. Ich betrachte sein farbenfrohes Ebenbild auf der hölzernen Kiste. Habe ich bis auf den Grund der Dinge gesehen, bis in jeden staubigen Winkel? Ich klappe die Kiste auf und schaue hinein. Da liegen noch immer die beiden Reagenzgläser, welche die Erftenmoder liebevoll für mich befüllt und mir hat zukommen lassen. In dem einen befindet sich das schwarze Wasser der Haaren, in dem anderen – Es ist das andere. Darum muss es Herman Holmer, Zigarrenfabrikant aus Oldenburg, gegangen sein. Um das zweite Reagenzglas.
Vorsichtig nehme ich es aus der Kiste und halte es ins fahle Licht des Dachzimmer-Stübchens. Nachdem ich es eine Weile betrachtet habe, rufe ich meinen Bekannten an und frage ihn, ob er vorbei kommen könnte.
„Ist Herrenbesuch erlaubt?“, frage ich Siggi, als er kurz darauf an der Tür klingelt.
Siggi bejaht. „Aber nur wenn Sie da oben nicht rauchen. Gestern hat’s da oben nämlich gestunken, wie wenn einer Zigarren geraucht hätt.“
Ich verspreche Siggi, dass mein Bekannter und ich nicht mehr heimlich Zigarren rauchen werden.
„Es ist das andere Reagenzglas“, erkläre ich meinem Bekannten, als wir endlich allein sind. Herman Holmers nächtlichen Besuch behalte ich für mich.
Mein Bekannter hat keine Ahnung, wovon ich spreche, aber er ist taktvoll und falls er mich für verrückt hält, lässt er es sich nicht anmerken.
„Erkennst du das wieder?“, frage ich und reiche ihm das zweite Reagenzglas. „Ich meine, kommt dir die Farbe des Wassers irgendwie bekannt vor?“
Mein Bekannter betrachtete das Reagenzglas lange und prüfend. Dann nickt er langsam. Es ist einer dieser Momente, das spüre ich ganz deutlich, in denen Menschen über sich hinauswachsen. Mein Bekannter sieht sich das Wasser an wie er in seinem Leben noch kein Wasser angesehen hat, und als er antwortet, da tut er es auf eine ruhige, bestimmte Weise, die mich wissen lässt, dass es klug gewesen ist, sich einen Experten vor Ort zu suchen.
„Ich erkenne den Farbton, dieses sonderbar fast schon leuchtende Grün, ich erkenne es ganz sicher wieder“, sagt mein Bekannter. „Solches Wasser findet man nur an einem Ort in ganz Oldenburg.“
„An welchem?“, frage ich, und das Herz schlägt mir schnell in der Brust.
„Dieses Wasser stammt aus dem Flötenteich“, erklärt mein Bekannter. „Ohne jeden Zweifel.“

22. Auf zum Flötenteich

Und plötzlich ist er da, der Herbst. Im Oktober hatte man nun wirklich damit rechnen müssen, dass es so kommt, und trotzdem bin ich erstaunt, als wir aus dem Haus treten und der Himmel über uns wolkenverhangen und düster ist. Mein Bekannter hat eingewilligt, mich zum Flötenteich zu fahren.
„Doch dieser Gefallen wird der letzte sein, den ich für dich tue“, verkündet er, aber das ist nicht weiter schlimm, weil ich sicher bin, so sicher, als hätte mir der Zigarrenhändler Herman Holmer die Worte zugeflüstert, dass die Geschichte, wegen derer ich hierher gekommen, dort, am Flötenteich auf mich wartet.

Der Flötenteich ist eigentlich kein Teich sondern eher eine Art See, finde ich. Mein Bekannter und ich, wir bleiben unserer Linie treu und wissen nicht so genau, wie wir am besten mit unserer Suche nach dem Unheimlichen beginnen sollen. Dieses Mal gibt es nicht einmal einen Studenten, der uns helfen kann. So beschließen wir, zunächst einmal um den See herumzuschlendern. Das Wasser glänzt unheimlich grün, irgendwie wissend, so als hielte der Flötenteich etwas unter seiner Oberfläche bereit, ein Geheimnis oder eine Geschichte. Um den Flötenteich herum wächst Schilf, und während wir laufen, meine ich immer wieder sonderbare Geräusche zu hören, ein Rascheln, ein Flüstern, so als ob sich dort jemand verstecken würde. In der Ferne glaube ich, Kinderstimmen ausmachen zu können, aber es ist Vormittag, und soweit ich weiß, sind die Kinder alle in der Schule. Tatsächlich kommen wir nach unserer Runde an einem Freibad vorbei. Niemand im Wasser, niemand im Gras, und all dem haftet etwas Verlassenes an, so als seien die Kinder nicht bloß in der Schule, sondern an einem Ort, von dem sie ganz sicher nicht mehr zurückkehren werden.

23. Der einäugige Fritz

Nachdem wir um den Flötenteich herumgelaufen sind, erreichen wir einen Campingplatz. Zunächst scheint er ähnlich verlassen wie das Freibad. Nicht viel zu sehen: bloß eine Handvoll schmutzweißer Wohnwagen und gelblich verdörrtes Gras. Vielleicht wegen des stabil wirkenden Zaunes, vielleicht wegen des abschreckenden Schildes („Dieser Platz wird Video überwacht!“) habe ich das Gefühl, hier nicht willkommen zu sein.
„Lass uns wieder gehen“, murmelte auch mein Bekannter, und in dem Moment, da er die Worte spricht, weiß ich, dass wir nicht gehen sollten. Im Gegenteil.
„Vielleicht noch nicht gleich“, sage ich.
Wir schleichen eine Weile den Zaun entlang, und dann entdecken wir den Mann. Er sitzt in einem Klappstuhl neben einem der Wohnwagen und liest Zeitung. Wir stehen ja – zaunbedingt – recht weit entfernt und meine Augen sind nicht die besten, dennoch scheint mit der Mann im Klappstuhl eine frappierende Ähnlichkeit mit Herman Holmer aufzuweisen.
Als er meinen Bekannten und mich hinter dem Zaun herumlungern sieht, lässt er seine Zeitung sinken und sieht uns an.
„Moin!“, rufe ich, weil man damit noch immer nichts falsch machen kann. Hinter dem Mann tritt eine Frau aus dem Wohnwagen. Sie ist in eine Art Kittel gekleidet und hat fettiges, graues Haar und erinnert mich an überhaupt niemandem.
„Können wir uns kurz unterhalten?“, frage ich. Und weil das manchmal hilft: „Ich bin Schriftstellerin. Und würde mit Ihnen gerne über das Unheimliche sprechen!“
Der Mann und die Frau tauschen einen Blick. Dann zucken sie die Achseln und nicken, ihre Köpfe heben und senken sich, im gleichen Takt.

Sie sind zu dritt. Der Mann im Klappstuhl stellt sich uns als einäugiger Fritz vor. Die Frau im Kittel ist seine Frau und heißt Evie. Weiter hinten im Schutz der Bäume, zunächst vor meinen neugierigen video-überwachten Augen verborgen gibt es noch einen weiteren Mann. Auch er sitzt in einem Klappstuhl, auch er liest in einer Zeitung. Als mein Bekannter und ich langsam über den Campingplatz näher kommen, hebt er die Hand zum Gruß und winkt.
Evie stellt sich als Evie vor. Der erste Mann im Klappstuhl sagt, er sei der einäugige Fritz. Ich schaue in seine zwei dunklen Herman Holmer-Augen und stelle die Frage, die man in diesem Fall wohl erwarten kann.
„Ach, der heißt nur wegen seinem Vater so“, sagt Effie und deutete hinüber zu dem anderen Mann in dem anderen Klappstuhl.
Der blinzelt uns freundlich zu mit seinen zwei schläfrigen, ganz unholmerigen Augen, und wir nicken ergeben.
„Sie sind bestimmt hier wegen des Jungen“, sagt der einäugige Fritz.
„Wegen des Jungen?“, frage ich. „Welchem Jungen denn?“
„Na, der Junge, der damals hier verschwunden ist“, sagt der einäugige Fritz.